WISSENSCHAFTLICHES GESAMTKONZEPT
Verfasser: Dr. Karin Harrasser, Dr. Alexander Klose, Dr. Oliver Müller, Georg Seeßlen, Markus Metz
Inszenierung: Hannah Hurtzig
November 2010
WANN BEGINNT EIN LEBEN? WANN ENDET EIN LEBEN? WER BESTIMMT DARÜBER?
Geburt und Tod, die scheinbar unumstößlichen, höchstens der Macht des Schicksals oder den Göttern zugänglichen Begrenzungen des Lebens, waren zu allen Zeiten eingebettet in kulturelle Handlungen. Nicht die Ereignisse an sich, sondern deren Bestätigung oder Wiederholung durch magische Riten, religiöse Zeremonien, bürokratische Akte oder medizinische Eingriffe lassen die Menschen ins Leben der Gemeinschaft treten und entlassen sie in den Tod. Es sind ebenso sehr kulturelle und historische wie natürliche oder biologische Gegebenheiten, die Anfang und Ende des Lebens bestimmen.
Diese Kulturförmigkeit der Lebensgrenzen, die wahrscheinlich zu den Anfangsgründen von menschlicher Kulturbildung überhaupt zu zählen ist, scheint jedoch durch die jüngsten kulturellen und technologischen Entwicklungen verschärft worden zu sein. Dasjenige, was als lebendig angesehen wird, ist im Zeitalter der Biotechnologien einem steten Aushandlungsprozess unterworfen. Zugleich bevölkern sich die Arsenale des Imaginären mit einer wachsenden und sich ausdifferenzierenden Vielzahl von Gestalten zwischen tot und lebendig. Eine Welt von „Untoten“, die als Traum oder Alptraum in Filmen, Romanen, Comics, Feuilletons und Bestsellerlisten hausen. Wie hängen die durch Entwicklungen in life sciences und Hochtechnologiemedizin eröffneten neuen Möglichkeitsräume an den Grenzen des Lebendigen mit der Vervielfältigung von Untoten-Phantasien in den Vorstellungsräumen der Kultur zusammen? Gibt es neben der philosophisch und religiös motivierten Kritik an der Anwendung der technischen Entwicklungen und den ethisch begründeten Versuchen ihrer Begrenzung nicht noch ein weiteres Feld, in dem die Forschungen der Biowissenschaftler und die Praktiken der Medizintechniker, die für viele zur alltäglichen Realität geworden sind, gesellschaftlich verarbeitet werden, nämlich die Populärkultur.
Die Veranstaltung lotet aus, was wir im Zeitalter der Biotechnologien als lebendig begreifen. Es soll um Übergangszonen gehen, von denen wir uns unsicher sind, ob sie (noch bzw. schon) zum Einzugsbereich des Lebendigen gehören oder nicht; und um Formen des Über- bzw. „Unterlebens“ (Erving Goffman), die an die Grenzen dessen führen, was Menschen als soziale und natürliche Wesen bestimmt und befähigt. Wir wollen sondieren, wer mit welchen Interessen und Begründungen welche Narrative über Anfang und Ende des Lebens – und seine verschiedenen Zwischenstufen – lanciert. Das ist eine Fragestellung, die so unterschiedliche Aussagesysteme wie das der Medizinethik, der Rechtssprechung, der Politik, der Religion, der Philosophie, der Kunst und der Populärkultur verbindet.
DIE NEUE MACHBARKEIT
Besonders die modernen Biotechnologien und ihre Möglichkeiten, in Lebensprozesse einzugreifen, schaffen derzeit eine Umbruchsituation, die vertraute ethische und ontologische Rahmenvorstellungen unterminiert. Durch die „Synthetisierung“ von Leben im molekularbiologischen Bereich oder durch die „Herstellung“ von „überzähligen“ Embryonen („frozen angels“) werden vormals weitgehend unhinterfragte Grenzen verwischt: Sind diese „Entitäten“ lebendig oder tot, noch-nicht-lebendig oder noch-nicht-ganz-tot? Sind sie schützenswert? Hat dieses Leben schon einen Wert oder handelt es sich um bloße Biomasse, um eine Art biotisches Abfallprodukt der Technologien? Aber auch in anderen Bereichen der Medizin, insbesondere der Intensivmedizin, entstehen ontologische Grauzonen: Was bedeutet es, wenn ein Mensch, mutmaßlich, keine personalen Eigenschaften mehr hat? Wie ist die Daseinsform eines Wachkoma-Patienten zu beschreiben? Oder: Was sind das für Körper, denen Organe und Gewebe entnommen werden – sind sie gegen alle Intuition tot, nur weil es das Hirntodkriterium so festlegt? Darüber hinaus gibt es neue biotechnologische Möglichkeiten eines „Lebens nach dem Tod“: Teile eines Menschen (seine Zellen oder Organe, sein Blut, Knochenmark etc.) können in den Körpern von anderen Menschen weiter existieren, deren „Lebensqualität“ erhöhen oder deren Tod hinausschieben; Zell-Linien können unbegrenzt vermehrt werden. Die Option, als gespeicherte Information in spezialisierten Gen-Banken fortzuleben, wird damit realistisch: „Der Mensch, der heute stirbt, ist nicht wirklich tot.“ (Thomas Lemke)
Wer die Definitionshoheit über das Leben hat, bestimmt auch darüber. Diese Fragen der Machbarkeit werden nicht allein zwischen Wissenschaft und Politik ausgehandelt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die populäre Kultur in allen ihren Abstufungen zwischen künstlerischer Auseinandersetzung, medialer Vermittlung von Wissen und Kritik und drastischem Stoff von Angst und Begehren: Filme, Musik, Comics, Illustration, Fernsehen und YouTube liefern Visionen, Alpträume, „Erklärungen“, Verknüpfungen, Mythisierungen und Karnevalisierungen der neuen Denk- und Machbarkeiten. Das „Untote“ muss Bild werden, um einen gesellschaftlichen Diskurs zu stimulieren; umgekehrt leistet die Bildhaftigkeit der Diskurse einen zentralen Beitrag zur Produktion des Untoten. Science Fiction und Horror begleiten die Entwicklung der life sciences wie der Biotechnologie seit deren Anfängen. Diese Beziehung ist keine Einbahnstraße: Ebenso wie die Populärkultur bei der Wissenschaft bedient letztere sich umgekehrt bei der populären Kultur nicht nur als Medium, sondern ebenso als Steinbruch der Ideen, der Bilder, der Rhetoriken.
DIE ÖKONOMISCHE LOGIK DER LEBENSSTEIGERUNG
In der Ausdifferenzierung der Biotechnologien zeichnet sich das Phantasma ab, der Bio-Körper sei eine „perfektible“, eine universal formbare, eine im Fluss des Lebens nicht festgelegte Sache. Der alte Traum der Unsterblichkeit kehrt in einer biotechnisch aktualisierten und konsequent materialistischen Form in der Hoffnung wieder, „dieser Bio-Körper könnte letztlich ein todloser Körper sein“, wie Petra Gehring schreibt. Im Horizont einer auf den menschlichen Körper und das Leben selbst ausgreifenden Optimierungslogik ist der (ökonomische) Mehrwert des Lebens also paradoxerweise das Untote: „Vom ‚guten Gen’ über den Erwerb von Lebenszeit bis zum Tötungsservice in der Sterbehilfe ist das biotechnisch gefasste Leben als Konsumgut attraktiv.“ (Petra Gehring)
Man könnte auch sagen: die Lebenssteigerungs-Logik der Biotechnologien produziert aus Angst vor dem Tod Untotes. Das gilt auch für die „transhumanistischen“ Lebenssteigerungs-Visionen. Die Überwindung des Todes mit biotechnologischen Mitteln fungiert hier als Gegenprogramm zu anderen kulturellen und religiösen Umgangsweisen und nimmt damit die Form einer Todesverleugnung an. Die „Reprogrammierung unserer Biochemie“ und die Aussicht, dass die sich dann in unserem Körper befindlichen Nanotechnologien uns befähigen werden, „ewig zu leben“, sind die Forschungsziele von Wissenschaftlern wie Ray Kurzweil. Basis seiner Arbeit ist die Garantie der Fortexistenz des „biotischen Substrats“ mit allen Mitteln. Doch ist das Leben, das auf diese Art unsterblich gemacht wird, das Leben, das wir kennen? Werden wir in Zukunft mit diesem untoten Leben konfrontiert? Gibt es heute schon untotes Leben?
Im Gegensatz zum Überleben ist das von uns ins Zentrum gerückte „untote Leben“ ein unheroisches „Irgendwie-sein“, das verunsichert und wenig symbolische Deckung hat, weil es Semiotiken und Werthierarchien durcheinander bringt. Das prägnante Bild für so eine Art von Leben ist der Zombie mit seinen „vitalen Beeinträchtigungen“. Als Filmfigur trat der Zombie in seiner modernen Form 1968 in George A. Romeros berühmtem „Night of the Living Dead“ auf – ein Jahr nach der weltweit ersten Herztransplantation an einem Menschen und zeitgleich mit der Formulierung des Hirntodkriteriums als Grundlage für die klinische Entscheidung über Leben oder Tod. Der Zombie bietet zugleich einfache Drastik und verbindet auf komplexe Weise archaisch-mythische, soziologische, historische, technologische und schließlich sogar philosophische Fragen. Sein metaphorischer Gehalt reicht vom Sklavenmythos und der Revolte bis zur Seuchen-Metapher; der Zombie ist aber auch der größte anzunehmende Unfall aller life science. Sosehr das ‚weder leben noch sterben können‘ uns vor ontologische, philosophische, juristische und ganz konkret lebensweltliche Probleme stellt, sowenig darf dabei in Vergessenheit geraten, dass andernorts massenhaft und gleichgültig getötet und sterben gelassen wird. Die Ungleichheit der (medizinischen) Ressourcen hat auch zu einer beunruhigenden und ungerechten Ökonomie des Sterbens in globalem Maßstab geführt. Der Zombie des 20. Jahrhunderts war eine sozialkritische Figur der (kolonialen) Ausbeutung des Körpers, der Enteignung der Seele und der Entfremdung der Arbeit, heute ist er häufig eine posthumane Entität, die in einer Gegengesellschaft lebt. Wer oder was aber ist der Zombie des 21. Jahrhunderts?
HERRSCHAFT ÜBER DAS UNTOTE
Die Herrschaft über Leben und Tod ist zu einer Herrschaft über das Untote geworden: Wer bestimmt, was untot ist? Wer profitiert vom Untoten? Wer rettet uns vor dem Untoten? Ein Ausgangspunkt des Kongresses ist die These, dass Foucaults Analyseinstrument der „Biomacht“ – also eines an wissenschaftlich erfassten, biologischen Grundfunktionen, wie Leistungsvermögen oder Fortpflanzungsfähigkeit, ansetzenden Machttypus – um die Kategorie des Untoten erweitert werden muss. Während Foucaults theoretischem Modell die Dichotomie „lebendig“ vs. „tot“ zugrunde liegt (es geht ihm um die biopolitische Unterscheidung „zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muss“), produziert die moderne Biomedizin epistemologische und politische Grauzonen sowie ontologische Grenzfälle, deren unklarer Status Ausdruck eines ethischen Dilemmas ist: Für normative Entscheidungen bedarf es eines Rasters – z.B. lebendig vs. tot, ‚jemand‘ vs. ‚etwas‘ –, durch das dasjenige fällt, was weder lebendig noch tot ist. Das führt zu einem Handlungsvakuum: Antworten auf die Fragen zu geben, was das Untote ist und wer das Untote beherrscht, wird zur gesellschaftlichen Aufgabe.
Ob das „verbesserte“, „verlängerte“, „neue“ Leben, das die Biotechnologien produzieren bzw. proklamieren, überhaupt noch als ein menschliches betrachtet wird, steht hier ebenso zur Disposition wie die Frage, wer auf welche (technischen, intellektuellen, kulturellen) Ressourcen zugreifen kann. Während Wissenschaft und Politik noch um die Vertretbarkeit des Machbaren ringen, geht es in der populären Kultur längst um die nächsten Fragen: Was geschieht mit dem Bewusstsein in jenen Zonen zwischen Leben und Tod, die sich dem Wissen noch entziehen? Was mit einer Gesellschaft, in der sich unterschiedlich „vitale“ Lebensformen begegnen? Welche Rechte haben Untote? Wie steht es mit ihrem Sexual- und Gefühlsleben? Wem gehören sie? Muss alles gar auf einen „Krieg“ zwischen humanen und posthumanen Lebensformen hinauslaufen? Oder wird es (prekäre) Formen des Zusammenlebens geben?
Die populäre Kultur hat auf manche der Fragen, die die Wissenschaft und die Politik heute beschäftigen, schon Antworten gegeben, bevor sie gestellt waren. Sie vermittelt zwischen dem Machbaren, dem Vertretbaren und dem Vorstellbaren.
DER KONGRESS
Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Populärkultur wird im Allgemeinen eher verschämt oder ironisch konstatiert: Welche Voraussagen sind eingetroffen? Welche gegenwärtigen Neurosen bestimmen das prospektive Bild? Welche Stimmungen werden erzeugt und vermittelt? Wir wollen diese Beziehung ernster nehmen. Ohne die Bildproduktion der populären Kultur, die sich in vielfältigen Wechselbeziehungen mit der Bildproduktion der Wissenschaften befindet, ist der oder das „Untote“ im doppelten Sinne nicht vorstellbar. Ebenso wie jene der Populärkultur werden auch die Bilder der Wissenschaft seriell produziert und massenmedial vervielfältigt. Es ist die durch das literarische und filmische Kulturgedächtnis geisternde Figur des „Untoten“, die einen drastischen Fokus auf die Verwischung der Grenze zwischen lebendig und tot richtet. Der Kongress sucht diesen wechselseitigen Verhältnissen von Theorien- und Bilderproduktionen und deren massenmedialen Verbreitungen durch eine Inszenierung zu entsprechen. ExpertInnen aus dem Feld der Biotechnologie werden ebenso vertreten sein, wie BioethikerInnen, PhilosophInnen, KünstlerInnen, Film- und Medienschaffende und Popikonen. Sie alle treffen in verschiedenen Konstellationen und zu verschiedenen Fragestellungen in den Räumen eines Filmsets aufeinander, das für die Dauer des Kongresses in einer Halle der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg errichtet wird. Die Besucher können sich durch diese Raumabfolge, die typische Orte der Produktion des „Untoten“ aufruft, frei bewegen. Ton und Bild aller Gespräche und Vorträge, Präsentationen und Experimente werden aufgenommen. Egal wo sie sich befinden können die Besucher über einen tragbaren Radioempfänger mit mehreren Kanälen und Kopfhörer wählen, welcher Situation sie gerade zuhören wollen. Parallel zu den Liveveranstaltungen läuft ein Filmprogramm. Die in der Regel nebeneinander her und aneinander vorbei laufenden Felder der wissenschaftlichen, politischen, ethischen und populärkulturellen Diskurse werden so miteinander konfrontiert und in ein produktives Verhältnis zueinander gebracht, damit der Gegenstand, um den sie alle ringen, sichtbar und verhandelbar gemacht wird: die Gegenwart und Zukunft dessen, was wir als Leben verstehen.