Petra Gehring
DER DEREGULIERTE TOD
Wir sorgen uns heute mehr um das Sterben als um den Tod. Der Tod scheint wenig Wert zu haben, er hat seine eigenständige Macht verloren, es gibt ihn zwar noch, aber er wird zu einem Projekt des Lebens. Das Lebensende dagegen, der Sterbeprozess, ist zur Zone biotechnischer Wertschöpfung geworden. Seit den 1960er Jahren hat das Medizinsystem eine Anzahl von Zugriffsoptionen auf den sterbenden Körper eröffnet. Das Hirntod-Kriterium ermöglicht seit 1968 nach zerebralen Ausfallerscheinungen Organentnahmen aus dem noch pulsierenden Körper; in Deutschland ist seit 1997 der Ernährungsabbruch bei Sterbenden erlaubt. Wir werden aufgefordert, unseren Tod zu planen und mit Patientenverfügungen und Sterbeversicherungen zu managen. Sterbepolitik ist die Kehrseite eines Gesundheitssystems, das versteckt rationiert. Der Tod wird durch Szenarien eines vorgezogenen Sterbens ersetzt, das mit Kontrollversprechen winkt und das Medizinsystem von Verantwortung entlastet.
Petra Gehring studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Rechtswissenschaft in Gießen, Marburg und Bochum. Sie ist Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt und im akademischen Jahr 2010/2011 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie forscht u.a. zur Theorie und Kritik der Biowissenschaften, Geschichte und Metaphysik des Lebensbegriffs sowie zum Zusammenhang von Technik, Macht und Wirklichkeit heute. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen u.a. «Theorien des Todes. Zur Einführung» (2010), «Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung» (2008) und «Was ist Biomacht. Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens» (2006). www.philosophie.tu-darmstadt.de