Vorschau auf den Tod: Röntgenbilder
Seit der Entdeckung der Röntgenstrahlen im Dezember 1895 können wir im lebenden Körper den toten sehen.
Bertha Röntgens Hand, geröntgt [Quelle: Wikipedia [link])
Als der Physiker Conrad Röntgen im Dezember 1895 in den 'Sitzungsberichten der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft in Würzburg' die Entdeckung einer 'neuen Art von Strahlen' bekanntgab, war ihm sicher klar, dass diese Entdeckung die Physik seiner Zeit in Aufregung versetzung würde. In welchem Ausmaß er mit den Röntgenstrahlen aber auch – in sehr wörtlichem Sinne – den Blick auf den Tod revolutionieren sollte, konnte er höchstens erahnen.
Dass die Nachricht von Röntgens 'X-Strahlen' mit einer derartigen Gewalt den internationalen Blätterwald aufwirbelte ist vermutlich zuallererst jenen Fotografien zu verdanken, die sich mit Hilfe der X-Strahlen produzieren ließen und eine andere Welt sichtbar machten. Unter den ersten zirkulierenden Bildern befand sich auch jenes berühmte Bild das Röntgen von der Hand seiner Frau angefertigt hatte und dessen schockierende Wirkung auf die öffentliche Imagination wohl dem entspricht, was Thomas Mann 1924 in seinem Roman Der Zauberberg als Erfahrung seines Protagonisten Hans Castorp beschreiben wird:
Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das ziemlich kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmückt, der bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen
(Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt a.M. 1998, S. 304.)
Nicht nur weil Knochen eh schon symbolisch für den Tod des Menschen standen (man denke beispielsweise an den Sensenmann), sondern auch weil die Möglichkeit, durch Materie 'hindurchzuschauen' spiritistischen Theorien über eine übersinnliche '4. Dimension' befeuerten, konnten die Röntgenstrahlen zum Ausgangspunkt parawissenschaftlicher Spekulationen werden, in denen das uralte Leib-Seele Problem und ein Bild moderner Physik sehr eigenartige Verbindungen eingingen.
Aber die Durchstrahlung des menschlichen Körpers, wie sie Röntgen anhand seiner Frau vorgemacht hatte, zeitigte auch sehr handfeste medizinische Konsequenzen. Die Medizin, die bis dahin vornehmlich auf äusserliche Symptome bzw. das Abhören und Abtasten des Körpers angewiesen war, um erst nach dem Tod in der pathologischen Anatomie die Veränderung der Knochen, Organe und Gewebe wirklich sehen und damit verifzieren zu können, erhielt mit dem Röntgenbild schon am lebenden Körper eine Vorschau auf den Tod. So findet sich beispielsweise in einem medizinischen Journal von 1915 die Diagnose:
Any one who is watching the progress of anatomy in Britain must have noted a very definite change – almost a revolution – in the outlook of our younger anatomists ... It is not difficult to define the nature of the changes which are taking place in our dissecting rooms. the older school studied and described the dead body; the aim of the newer school is to study and teach the anatomy of the living body... The discovery of Roentgen rays was the factor which ultimately killed the dead, unimaginative study of the human body
(Anonym: Rezension von: T. Wingate Todd: The clinical anatomy of the gastro-intestinal tract, in: British Medical Journal, I, 26. Juni 1915, S. 1085, hier zitiert nach: Bernike Pasveer: Pasveer, Bernike: Shadows of Knowledge. Making a representing practice in medicine: x-ray pictures and pulmonary tuberculosis, 1895-1930, Amsterdam 1992, S. 45-46.)
Die Reichweite der durch Röntgenbilder ausgelösten 'Revolution' der Medizin ist kaum zu unterschätzen, aus der Diagnose und Behandlung von Tuberkulose und Krebs ist sie beispielsweise nicht wegzudenken. Röntgenbilder können weitergegeben und von verschiedenen Augen begutachtet werden. Deshalb spielen sie und die anderen bildgebenden medizinischen Verfahren, die sich vom Röntgenbild aus entwickelt haben, eine wichtige Rolle in rechtlichen und versicherungstechnischen Zusammenhängen. Außerdem nehmen sie eine zentrale Stellung bei der Kommunikation innerhalb moderner medizinischer Infrastrukturen ein, die sich durch einen hohen Grad an Arbeitsteilung und Spezialisierung auszeichnen.
Tragischerweise haben Röntgenstrahlen gewissermaßen auch eine Rückseite der Medaille. Denn was Röntgen noch nicht ahnte und sich erst auf schmerzhafte Weise herausstellen sollte: Die Strahlen wirken selber tödlich auf organisches Gewebe, was gerade in der Anfangszeit ihrer Anwendung unzählige Tote forderte. Allein die Liste der Mediziner, die bei ihren Versuchen dieser neuen Technik zum Opfer fielen, füllt ein ganzes Buch. (Siehe: Werner Molineus, H. Holthusen und H. Meyer (Hg.): Ehrenbuch der Radiologen aller Nationen, Berlin 1992.)