Zwangssozialisierte Organe [Ninni Holmqvist]

»Was ist der Sinn des Lebens?«, fragte Arnold, mein Psychologe.

Die Welt, in der diese Frage an Dorrit Wegner, die Ich-Erzählerin von Ninni Holmqvists Roman Die Entbehrlichen, gerichtet wird, ist eine geschlossene Anstalt. Eine Art letztes Kur-Sanatorium für Menschen, die von der Gesellschaft als nicht mehr notwendige Mitglieder klassifiziert wurden.

Kinderlose Frauen und Männer ab Erreichen ihres 50. bzw. 60. Lebensjahrs werden dort zwangseingewiesen. Es sei denn, sie gehen einem Beruf nach, der als unentbehrlich gilt und daher eine Ausnahme zulässt. In diesem Sanatorium, einem von der Gesellschaft und ihrem früheren Leben komplett isolierten Heterotop, werden die Insassen bestmöglich versorgt und fit gehalten, um für allerlei medizinische und pharmazeutische Tests, vor allem aber für die „Spende“ ihrer Organe allzeit bereit und optimal vorbereitet zu sein. Der Roman buchstabiert die Ängste aus, die sich seit Einführung der modernen Transplantationsmedizin um diese Technologie und ihre möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen ranken.

Es ist bereits das dritte mal innerhalb nur einer Woche, dass Dorrit ihren Psychologen konsultiert, nachdem Majken, eine ihrer besten Freundinnen in der Anstalt, zur „Endspende“ verschwunden war, das Schicksal, das früher oder später alle Insassen erwartete:

»Der Sinn des Lebens?«, sagte ich. »Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube nicht, dass ich sie beantworten kann.«
»Versuch’s«, sagte Arnold.
»Meinst du mein Leben, was das für einen Sinn hat? Oder meinst du, was das Leben ganz allgemein für einen Sinn hat?«
»Du kannst die Frage interpretieren, wie du willst.«
Normalerweise, das heißt, hätte ich mich draußen in der Gesellschaft befunden, wäre ich auf der Hut gewesen. … Aber hier in der Einheit, dachte ich, konnte es wohl kaum eine Rolle spielen, wie man Fragen interpretierte. …
»Ich habe wohl geglaubt, mein Leben ist mein Besitz«, schwafelte ich. »Etwas, über das ich frei verfüge und über das niemand anders etwas zu sagen hat. Aber jetzt denke ich anders. Mir gehört mein Leben überhaupt nicht, es gehört anderen. … Der Staat oder die Wirtschaft oder das Kapital. Oder die Massenmedien. Oder alle vier. Oder sind Wirtschaft und Kapital dasselbe? Wie auch immer: Diejenigen, die das Wachstum und die Demokratie und den Wohlstand sichern, die sind es, denen mein Leben gehört. Ihnen gehört das Leben von allen. Und Leben ist Kapital. Ein Kapital, das unter den Bürgern gerecht verteilt werden muss, auf eine Weise, die Reproduktion und Wachstum, Wohlstand und Demokratie begünstigt. Ich selbst bin nur ein Verwalter; ich verwalte meine gesunden Organe.«
»Aber ist das deine eigene Meinung, Dorrit?«
»Ja, sicher. Oder – vielleicht nicht ganz. Aber ich arbeite daran, sie mir anzueignen.«
»Warum?«
»Um es auszuhalten, das ist doch klar. Ich lebe fürs Kapital, das ist doch eine Tatsache, oder? Und das Beste, was ich aus dieser Tatsache machen kann, ist, die Situation zu billigen. Sie für sinnvoll zu halten. Sonst kann ich es nicht für sinnvoll halten, dafür zu sterben.«
»Ist es wichtig für dich, dass du es als sinnvoll empfindest, für das, was du ›das Kapital‹ nennst, zu sterben?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich mich sonst machtlos fühlen würde, was ich an und für sich auch bin, aber das kann ich aushalten, solange ich es nicht ständig empfinde. Ich bin jetzt hier, stimmt’s? Ich lebe hier, und ich werde hier sterben. Ich lebe und sterbe dafür, dass das Bruttoinlandsprodukt steigt, und wenn ich das nicht als sinnvoll empfände, wäre das Dasein unterträglich.« …
»Vielleicht ist das der Sinn des Lebens. Vielleicht ist die Antwort auf deine Frage: Der Sinn des Lebens besteht darin, dass es erträglich ist. Bist du zufrieden mit der Antwort?«
»Du bist wütend«, sagte er – ich konnte nicht entscheiden, ob das eine Frage oder eine Feststellung war.
»Das ist doch sonnenklar, dass ich wütend bin!«, sagte ich. »Wärst du das nicht?«
»Doch«, antwortete er, »das wäre ich mit größter Wahrscheinlichkeit auch.«
Dann sagte er nichts mehr. Und er stellte keine weitere Frage zum Sinn des Lebens, deshalb sagte ich auch nichts, und wir saßen nur schweigend da, ziemlich lange … Schließlich sagte Arnold: »Weißt du, wer Majkens Bauchspeicheldrüse bekommen hat?«
Ich musste mich räuspern, bevor ich antworten konnte:
»Nein. Oder doch: eine Krankenschwester mit vier Kindern.«
Arnold beugte sich schräg nach vorn, nahm eine Mappe von dem kleinen Tisch neben dem Sessel, in dem er saß, öffnete sie und nahm eine Fotografie heraus, die er mir gerade reichen wollte, als er innehielt:
»Selbstverständlich ist es nicht nur diese eine Person, die dank Majken ihr Leben zurückbekommt. Ihr Herz kann an jemanden gegangen sein, ihre Lungen an einen anderen, die Niere – denn ich nehme an, sie hatte nur noch eine – an wieder einen anderen und die Leber ebenso. Und eine Menge mehr ist herausgenommen und zur Aufbewahrung in unsere Organ- und Gewebebanken gegangen. Ein einziger hirntoter Körper kann bs zu acht Personen das Leben retten. Die Entfernung und die Transplantation der übrigen Organe und Gewebe ist sozusagen ein Bonus, wenn ein bestimmtes Organ, in diesem Fall die Bauchspeicheldrüse, während einer geplanten und genau vorbereiteten Transplantation von einem bestimmten Spender mit der richtigen Blutgruppe und so weiter an einen bestimmten Empfänger geht. Und das hier«, jetzt beugte er sich wieder vor und reichte mir die Fotografie, »ist also die Empfängerin von Majkens Bauchspeicheldrüse.«
Auf dem Foto in meiner Hand war eine Frau mit vier Kindern im Vorschulalter abgebildet, von denen zwei Zwillinge waren. Die Frau sah müde und alt aus, ihr Gesicht ungesund schlaff und ausgezehrt.
»Sie ist mit diesen Kindern allein«, erklärte Arnold. »Ihr Partner – der Vater der Kinder – ist vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie hat keine Geschwister, ihre alte Mutter hat eine Demenzkrankheit und bedarf ständiger Aufsicht. Das Bild ist relativ neu: Das größte Kind ist bald sechs, die Zwillinge sind vor kurzem vier geworden, das Kleinste war noch nicht geboren, als der Vater verunglückte. Die Frau hat Diabetes … Sie kann weder normal essen noch trinken, sondern hängt am Tropf. Da du keine Kinder hast, kannst du dir vielleicht nicht vorstellen, wie es wäre, dich allein um vier kleine Kinder zu kümmern und dir um deine senile Mutter Sorgen zu machen, während du gleichzeitig einen Tropfständer mit dir herumschleppen, dich spritzen und Medikamente nehmen und unter ständiger ärztlicher Aufsicht stehen musst.«während du gleichzeitig einen Tropfständer mit dir herumschleppen, dich spritzen und Medikamente nehmen und unter ständiger ärztlicher Aufsicht stehen musst.«
Allerdings konnte ich mir das vorstellen, und ich hätte es gern so gehabt. Wie gern hätte ich mit dieser kranken, verbrauchten, zu früh gealterten und ziemlich hässlichen Frau getauscht. Ich vermisste meine Mutter; sie hätte noch so verwirrt  und hilflos sein können, Hauptsache, sie hätte alt werden dürfen, Hauptsache, sie wäre noch am Leben. Und ich wäre mehr als gern krank und erschöpft und in ständiger Sorge um vier minderjährige Kinder mit einem Tropfständer durchs Leben gegangen. Denn das war wenigstens ein Leben, auch wenn es sicher die Hölle war. Diese Hölle hätte ich gern gehabt, Hauptsache, sie war ein Leben.

Ninni Holmqvist, Die Entbehrlichen, München 2008 (original: Stockholm 2006), S. 101-106.