Materialistische Anthropologie [Michel Houellebecq]

Wissenschaftliche Weltsicht und (medizin)technische Innovationen führten im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zum Entstehen eines neuen Menschenbildes.
Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“ spielt sich vor dem Hintergrund eines in nicht allzu ferner Zukunft stattfindenden Durchbruchs in der Gentechnik ab, der zur Züchtung einer neuen, geschlechtslosen menschlichen Rasse führt.

Hier findet sich folgende, konzise Beschreibung des durch die modernen Entwicklungen bedingten Entstehens einer neuen, materialistischen, pragmatischen Anthropologie. Diese setzt den Wert jedes menschlichen Lebens nicht mehr ohne weiteres absolut, sondern sie relativiert ihn in bestimmten Grenzsituationen und nach bestimmten funktionalistischen Abwägungen:

Die christliche Anthropologie, die in den westlichen Ländern lange vorherrschend war, räumte … allem menschlichen Leben von der Zeugung bis zum Tod eine uneingeschränkte Bedeutung ein; diese Bedeutung hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Christen an die Existenz einer Seele im Inneren des menschlichen Körpers glaubten –, einer prinzipiell unsterblichen Seele, die dazu bestimmt war, später mit Gott vereint zu werden. Unter dem Druck des Fortschritts innerhalb der Biologie sollte sich im 19. und 20. Jahrhundert allmählich eine materialistische Anthropologie entwickeln, die von völlig anderen Voraussetzungen ausging und in ihren ethischen Empfehlungen weitaus bescheidener war. Zum einen wurde dem Fötus, jener kleinen Anhäufung von Zellen in fortschreitendem Differenzierungsprozess, nur noch unter der Voraussetzung eines gewissen gesellschaftlichen Konsens (keine erbliche Belastung, die zu Missbildungen führt, Einwilligung der Eltern) eine individuelle autonome Existenz zuerkannt. Zum anderen konnte der Greis, jene Anhäufung von Organen in fortschreitendem Auflösungsprozess, nur noch dann das Recht auf Überleben für sich in Anspruch nehmen, wenn seine organischen Funktionen ein Minimum an Koordination aufwiesen – Einführung des Begriffs der menschlichen Würde. Die ethischen Probleme, die in dieser Form die beiden entgegengesetzten Pole des Lebens (Abtreibung; und einige Jahrzehnte später dann die Euthanasie) stellten, sollten von da an zu unüberwindbaren Gegensätzen zwischen zwei Weltanschauungen, zu zwei völlig antagonistischen Anthropologien führen.
… Auch wenn die Probleme bezüglich des Werts des menschlichen Lebens nie offen ausgesprochen wurden, bildeten sie sich in den Köpfen der Menschen immer stärker heraus; man kann ohne Zweifel behaupten, dass sie in der Endphase der westlichen Zivilisation maßgeblich daran beteiligt waren, ein allgemein verbreitetes depressives, wenn nicht gar masochistisches Klima zu schaffen.

zitierte Passage aus: Michel Houellebecq, Elementarteilchen, Reinbek bei Hamburg 2006 [Paris 1998], S. 82f.