Zombologie [QRT]

Im Posthistoire-Zeitgeist der 1980er-Jahre wäre der Zombie fast zu einem Theoriestar geworden. Verkörpert diese Figur doch wie keine andere das Gefühl, irgendwie weiter zu existieren, obwohl alles um einen herum stagniert:

"Wenn die Geschichte tot war, die Zukunft tot, das Subjekt tot, das Wissen tot, und es trotzdem irgendwie weder tot noch lebendig weiterging, dann bot es sich an, diesem Dauer-Zustand einen Protagonisten zu geben:  Der Zombie war wie geschaffen dafür.“ So schreibt Frank Wulf, Herausgeber eines Merve-Bändchens mit dem Titel „Zombologie“. Und fährt fort: „Die Theorie, die erklärt, wie es dazu kam und was dies alles bedeutet, das war selbstredend die Zombologie.“

Der Verfasser jener postmodernen Wissenschaft des Untoten, dem diese Worte gewidmet sind, war der Philosoph, Soziologe, Bartender, Dealer, Musiker, Comiczeichner und Journalist Markus Wolfgang Konradin Leiner, alias QRT (Kurt), der sich 1996 mittels einer Überdosis Heroin endgültig aus diesem Leben verabschiedete. Seine Sammlung unsystematischer Texte wurde zum Großteil posthum, in mehreren Büchern, veröffentlicht. Unter der Überschrift „Zombologie“ heißt es dort:

Das Wesen, von dem die Zombologie spricht, ist kein Mensch und befindet sich in keiner historischen Dimension. Es ist ein Untoter, der auf der Schnittstelle dieser ersten, magischen Differenz steht, und obwohl er humanoide Züge trägt und seine ahistorische Beschaffenheit auf eine vergangene Vergangenheit hinweist, ist er doch nicht weiter rekonstruierbar als durch eine historische Anthropologie und eine „Archäologie der Gräber“. Dieses Wesen kennt keinen Perspektivismus, es ist nicht Subjekt, es ist an keine Soziusmaschine angekoppelt und es ist nicht rational. Es bildet also keine Relation zur Welt aus, sondern steht zwischen dieser Relation: eine mediale Existenz, ein Bildschirm-Dämon. …
Wo der Mensch stand, steht jetzt ein Zombie, und die Anthropologie kippt über in eine Zombologie. …
Den Zombie sieht man nicht im Spiegel, sondern auf Leinwänden, Bild- und Videoschirmen. Es gehört zur Axiomatik der Zombologie, daß sie mit der Gleichung: Wahrnehmung = Film operiert. Das Auge ist eine Kamera und was ein Auge sieht, ist das Bild, das es selbst auf die Leinwand geworfen hat.

Jeder Zombie ist ein Reservoir an Mythologemen, die bis in die archaischsten Schichten jeglicher Kultur zurückreichen. Er ist so universell wie die ursprüngliche Differenz, in der er fußt. Der Zombie gehört zu den primitivsten religiösen Vorstellungen der Menschheit und seine Kraft hat er von den einfachsten Vorstellungen des Präanimismus über die paganen Totenkulte, die christliche Reliquienverehrung und die schwarze Romantik bis heute, bis in den Zombie-Film hinein gehalten. Dieses wunderbare Geschöpf erzählt mehr über Ontologie, Biologie, Semiotik, Medientheorie und die conditio humana als die gesamte Aufklärung mit ihrem hanebüchenen Humanismus.

QRT, Zombologie. Teqste, hg. v. Tom Lamberty u. Frank Wulf, Berlin 2006; S. 9f. u. 18f.