Drastik - Aufklärung - Langeweile [Dath, Seeßlen]
Auch Georg Seeßlen weist auf diesen Zusammenhang. Für ihn hat die Langeweile eine gesellschaftliche Dimension. Der Horror erwachse aus der sich ausbreitenden tiefen Langeweile in der modernen Gesellschaft:
Moderne Monster, so scheint es, entstehen viel weniger aus Sünde und Fremdheit denn aus purer Langeweile. Es sind die Serienmörder, die töten, weil sie sonst nichts anderes Aufregendes zu tun finden, die Amokläufer, die ihr ereignis- und hoffnungsloses Leben einfach nicht mehr aushalten, die freundlichen Vorstadtbewohner, die im Keller ein Folterlager errichten, bewaffnete Kids, die sich einen Joyride gönnen, und »out for a spree« sind. Zombies sind die furchtbarsten Wesen der Leere.
Dath wiederum denkt noch in eine ganz andere Richtung. In dem Brief „über gestreckte Zeit, Aufklärung und andere Arten von Unnatur“, einem Kapitel seines Buches Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, lässt er seinen Briefe schreibenden Protagonisten sich über die programmatische Bedeutung der Drastik (und der mit ihr verbundenen Langeweile) als ästhetisches Prinzip im Geist der Aufklärung auslassen. Die Drastik in der heutigen Populärkultur ist nach seiner Darstellung eine Art Schrumpfform und letztes Residuum der (weitgehend aufgezehrten) Ideologie der Aufklärung und ihrer Methoden:
Geduld, Präzision, Anschauen, Zeigen, keine Angst vor Langeweile: Drastik, Aufklärung und moderne Wissenschaft verbindet … nicht nur Methodisches, sondern auch Historisches. Sie saßen von Anfang an, soll heißen: ab spätestens dem achtzehnten Jahrhundert, im selben erkenntnisleitenden und ästhetischen Boot.
Die Aufklärung habe beim Aufschneiden (sprich: Sezieren) von Leichen angefangen und sei dort inzwischen auch wieder angekommen. Der vorherrschende Zug der heutigen Zeit, den drastischen Horror, die Werke von de Sade bis Fulci, einem irrationalen, „anti-modernen“ Moment zuzuschreiben, verfehle darum völlig den Kern der Sache. Ja, sie verkehre ihn in sein Gegenteil:
Erkennt man, daß moderne Drastik eine (kulturindustrielle wie avantgardistische, elitäre wie massenunterhaltende) Verlängerung von Zeige-, Rede- und Beobachtungsformen ist, die nicht in Atavistischem gründen, sondern erst mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Ideenwelt der Aufklärung geschichtsmächtig wurden, wird man vor allem die beiden schweren Denkfehler vermeiden können, die jede öffentliche Unruhe über drastische Kunst seit Jahren beherrschen.
Sie beide haben mit einer Fehlbeschreibung von Rezeptionstatsachen zu tun: Fast nie gibt jemand richtig wieder, wie das Publikum, das Drastik schätzt, sie tatsächlich erlebt. Nirgends liest oder hört man, wie Horrorfilmfans oder Pornocomic-Sammler mit ihrem Zeug tatsächlich umgehen, weil zwei Fehler den zutreffenden Bericht davon unmöglich machen.
Die beiden Fehler heißen Zensurbegehren und Apologie.
Zitate aus:
Dietmar Dath, Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt/Main 2005, S. 72ff.
Georg Seeßlen, George A. Romero und seine Filme, Bellheim 2010, S. 33. (Volltext des ersten Kapitels auf der Seite des Verlags)