Karin Harrasser

Karin Harrasser: Unterleben

Im Gegensatz zum Überleben ist das Goffmansche „Unterleben“ ein unheroisches, „Irgendwie-sein“, das verunsichert und wenig symbolische Deckung hat, bzw. Semiotiken und Werthierarchien durcheinander bringt.Das prägnantes Bild für so eine Art von Leben ist der Zombie, der Untote, mit seinen „vitalen Beeinträchtigungen“.

Das Lebendige ist dabei ein politischer Einsatz und eine Wertinstanz, die von zwei Polen ausstrahlt: Einerseits haben es sich die Lebenswissenschaften seit etwa 150 Jahren zum Ziel gesetzt, das, was lange Zeit als das ultimativ Unfassbare, Unbegreifliche, Rätselhafte, Sakrale galt – das Leben selbst – zu entschlüsseln und einer Nutzung und Optimierung zuzuführen. Andererseits wurde Lebendigkeit im Sinne der Unvorhersehbarkeit und Offenheit von Prozessen in der Philosophie immer wieder als „kritischer Indikator“ (Foucault) gegen eine rein szientifische Welterschließung eingesetzt. Das Leben, als das was irren kann, was fundamental unplanbar, was überraschend und selbstorganisiert ist, ist deshalb gleichermaßen Antrieb für wissenschaftliche Neugier und technische Entwicklung wie für deren Kritik. Folgt man einer foucaultschen Konzeption unterschiedlicher Regierungsmodelle müsste man demnach von einem dritten Regime sprechen: Nach der souveränen Herrschaft, die mit der Formel „Sterben machen und Leben lassen“ in das Leben der Menschen eingreift und einem biopolitischen Zugriff, der im „Leben machen und Sterben lassen“ besteht, bestünde das neue Regime in einem „weder Leben noch Sterben lassen“. 

Von besonderer Relevanz ist der Umstand, dass der Tod als Konsequenz der Evolutionstheorie und der experimentellen Biologie zu einer Lebensfunktion uminterpretiert wurde. In einer anderen Immanenz als in unterschiedlichen Religionen, die Tod und Leben zyklisch aufeinander beziehen und die Aktualisierung des Jenseitigen (Toten) in jedem Individuum behaupten, wird der Tod in der Evolutionsbiologie in die Logik des Überlebens oder Verschwindens ganzer Arten eingetragen. Dadurch werden Sexualität und Tod sehr eng aufeinander bezogen: Geht es einmal um das Überleben der Art, und nicht mehr um das des Individuums, ist dessen Aufgabe nach der Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses im Prinzip erledigt und die Spanne zwischen Fortpflanzung und Tod ist eine „untote“ Phase seines Lebens. Weitere Untote betreten damit die Szene: Beispielsweise solche Organismen, die sich durch Zellspaltung fortsetzen. So kann nach dem Vererbungsforscher August Weismann das Vorhandensein einer Leiche nach dem Tod zu einem Kriterium für das Lebendige werden, wenn er in Hinblick auf die Amöben fragt: „Wo ist denn die Leiche? Was stirbt denn ab? (...)“. Der Status des Lebendigen wird damit ebenso fraglich wie der Tod, der nach Weismann in diesem Fall „nur noch im figürlichen Sinn“ auftritt, also nur noch als Fiktion/gedankliche Figur.

Ein anderer Aspekt ist die lange Geschichte der Frage des Nachlebens im Gedächtnis der Anderen. Schon in der Antike wird darüber – im Horizont der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele -- nachgedacht und führt (neben der Erfindung der Literatur) zu der merkwürdigen Überlegung, die in Platons Phaidon Sokrates attribuiert wird: Es ist nämlich hier die Rede davon, dass Philosophie eigentlich eine Einübung ins Sterben ist. Philosophieren sei sein Leben lang „so nahe wie möglich am Gestorbensein“ – im Sinne der Annäherung an die unsterbliche Seele – zu sein. Dies impliziert jedoch keineswegs, wie es heutige Interpretationen der antiken „Sorge um sich selbst“ nahe legen, die Nähe von einer philosophischen Lebensführung und einer „suizidalen Vernunft“, denn Leben und Gestorbensein, Körper und Seele werden hier als eng verwobene Bereiche gefasst, die nicht per Dezision geschieden werden können, sondern die durch göttlichen Willen als aufeinander bezogene, komplementäre Einheiten in die Welt kommen.

AKTUELLE PROBLEMLAGE
Die westlichen Gesellschaften haben mit Hilfe des technowissenschaftlichen Komplexes ein Problem erzeugt, das den meisten anderen Gesellschaften unbekannt ist: Es wird zuviel und zu lange gelebt, da die Medizintechnik ein zeitlich immer weiter ausdehnbares Leben verspricht. Zuviel und zu lange allerdings nur in Hinblick auf die derzeitige globale Ressourcenlage, die im Umkehrschluss die Tötbarkeit sehr vieler nicht nur toleriert sondern sogar braucht.

Die Techniken der Lebensverlängerung wirken zudem auf die individuelle Lebensführung zurück: Z.B. darauf, welche Entscheidungen als individuell oder als kommunal gelten, wie sich in der Dauerdebatte um ärztliche Sterbehilfe, Sterbehilfe auf Rezept ablesen lässt. Es lässt sich zugespitzt sagen, dass einerseits Sterben zu einem Projekt geworden ist (das psychologisch begleitet, durch Ratgeberliteratur unterstützt und inzwischen auch versicherungstechnisch reguliert wird) und dass andererseits immer mehr Unklarheit darüber herrscht, mit welchem Vokabular (lebenswissenschaftlichem, philosophischem, phänomenologischem) Lebendigkeit sagbar und sichtbar ist. 

Georgio Agamben erzählt in Bezug auf aktuelle „Zonen der Unentscheidbarkeit“ in Hinblick auf Leben und Tode, das Beispiel einer Wachkomapatientin: „Ein perfektes Beispiel für dieses Schwanken des Todes ist der Fall von Karen Ann Quinland, einem amerikanischen Mädchen, das in tiefes Koma gefallen war und während Jahren mittels künstlicher Beatmung und Ernährung am Leben gehalten wurde. Auf Antrag der Eltern gewährte am Ende ein Gericht, die künstliche Beatmung abzuschalten, da das Mädchen als tot zu betrachten sei. An diesem Punkt fing Karen, obwohl sie im Koma blieb, wieder natürlich zu atmen an und ‚überlebte’ mit künstlicher Ernähung bis 1985, dem Jahr ihres natürlichen ‚Todes’. Es ist offensichtlich, dass Karen Ann Quinlans Körper in Wirklichkeit in deine Zone der Umbestimmtheit getreten war, in der die Wörter ‚Leben’ und ‚Tod’ ihre Bedeutung verloren hatten.“ (Agamben 1995, 172f.)

SEHR UNTERSCHIEDLICHE THEMEN STEHEN AKTUELL IM ZUSAMMENHANG DAMIT:
1) Wo Wohlstand herrscht, zeigt sich das Untote in unseren Schwierigkeiten mit dem Sterben lassen. Der Umgang mit Wachkomapatienten, die Debatten um Sterbehilfe, die Etablierung der Palliativmedizin, der Zuwachs von PatientInnenverfügungen sind Symptome eines gewandelten Verständnisses des Lebensendes im Angesicht maschinengestützten Überlebens. Ähnliche Probleme tauchen beim Beginn des Lebens auf: Die Phase, in der über die Lebensfähigkeit/Erwünschtheit des neuen Lebens entschieden wird, wird durch die Pränataldiagnostik immer länger und immer unübersichtlicher.

2) Aufgrund ungleicher Zugänge zu Ressourcen stellt sich das Problem bei mangelndem Kapital sehr anders dar, denn wer sich Medikamente und Maschinenmedizin nicht leisten kann, stirbt schnell und wenig beachtet (AIDS-Tote in Afrika, Organhandel, ungleicher Zugang zu medizinischer Versorgung). Das „Zuviel-leben“ wird außerhalb der ersten Welt häufig als quantitatives Phänomen wahrgenommen: Als Überbevölkerung und Massensterben. Dies macht auch deutlich, dass untote Phänomene raumzeitlich äußerst inhomogen verteilt sind.

3) Zugleich können wir beobachten, dass sich die Zone des „man weiß es nicht“ bis in Details der einfachen Lebensführung ausdehnt: Kulturtechniken der Körpermodifikation, wie sie menschliche Gesellschaften immer schon mit viel zeitlichem und körperlichem Aufwand praktiziert haben (von der Manipulation von Schädelformen bis zur Schminke) werden gewissermaßen von der unheimlichen Möglichkeit ewig zu leben infiziert und erscheinen ebenfalls als untot. Der Gang ins Fitnesscenter, Schönheitschirurgie, Pränataldiagnostik: all das ist einfach zu haben, scheint gleichzeitig aber anstößig oder zumindest fraglich.

4) Ein weiterer signifikanter Umstand ist, dass die Verunklarung des Todes durch dessen Positivierung (z.B. Hirntod-Kriterium) zu einer Intensivierung der Medizin führt: Die Intensivmedizin kümmert sich um Individuen in einer Schwellensituation. Signifikant erscheint mir in diesem Kontext, dass ähnliche Widerständen, die sich bei der Einführung der Intensivmedizin in Krankenhäusern beobachtbar waren, sich gegenwärtig in Bezug auf die Palliativmedizin zeigen. Freilich ist das Problem beinahe invertiert worden: Die Intensivmedizin zeichnet sich durch sehr hohen technischen Aufwand und dementsprechende Investitionen aus, die Palliativmedizin durch hohen Personalaufwand sowie einer Infragestellung des Heilungsgedankens der Medizin.

5) Einerseits hat also der Imperativ der Selbstverbesserung breite Resonanz gewonnen, andererseits scheint er sich nicht von selbst zu verstehen. Man könnte spekulieren, dass die Arbeit am Körper deshalb so fraglich/schal geworden ist, weil sie privatisiert ist und keine kulturelle/rituelle Einbettung erfährt außer einem vagen Versprechen auf „mehr Leben“ sowohl im Sinn eines intensiven Lebens (Erfolg bei der Partnerwahl, im Job) als auch im Sinn seiner zeitlichen Spanne.

6) Weiters sind die Körpermanipulationen in ein Sekuritätsdispositiv eingebunden, das den einzelnen mit seiner privatisieren Körperlichkeit beobachtet und überwacht: Hierher gehören Prävention und Überwachung der Körperfunktionen, aber auch insgesamt Verschiebung dessen, was man als gesund begreift. Das well-being wird lebenslang gemanaged und die Unterscheidung gesund-krank wird dadurch fraglich.

7) Auch der Diskurs um „virtual realities“ gewinnt in diesem Kontext neue Konturen: Wenn beispielsweise als Effekt des Visible Human-Projects (dem in- und auswendigen Ganzkörperscan zweier toter Individuen) gesagt wird, der „[Der Visible Human] lebt weiter, in den Datennetzen rund um den Erdball“, ist damit eine Lebensform angesprochen, die zwar tot ist, dafür aber „der Menschheit“ bzw. der modernen Medizin dient.

8) Der Diskurs der Lebensverlängerung erzeugt hypertrophe Spitzen der Todesverleugnung, wo er mit Innovationseuphorie und High-Tech zusammenklingt: Beispielsweise predigen im und rund um das MIT (Minsky, Kurzweil) die Transhumanisten ihre kryonische Revolution (während in den USA und anderswo häufig die basalste Krankenversorgung fehlt).

9) Signifikant erscheint mir der Untertiel der HBO-Serie Six Feet Under: Better Living Through Death rund um eine Bestattungsunternehmerfamilie. Er verweist er auf die enge Umklammerung von ins Leben reichendem Tod und Methoden der Selbstführung (die in der Serie in allen Varianten von Sekten, Rettung durch Kunst oder Kinderkriegen, Psychoanalyse, Vegetarismus, Outing etc. pp. durchgespielt werden). Darum ist es nur konsequent, dass die Nachfolgeserie True Blooddie Untoten nun (nur) figürlich darstellt.

Worum es also geht, ist eine Sondierung der Zonen zwischen Lebendig und Tod, zwischen Tötbarkeit und Todlosigkeit. Körpermodifikationen im Horizont von Langlebigkeit und Todesverleugnung schafft gewissermaßen weder Helden noch Monster, die ja üblicherweise positiv oder negativ besetzte Körpertransformationen exponieren, sondern Wesen, deren Status unklar ist: Weder super- noch subhuman aber auch nicht human, bewohnen sie die Zonen der Unklarheit, die sich immer weiter ausdehnen. Diese Problemlage ist überaus facettenreich und hat in den letzten Jahren massenhaft Bilder und Texte erzeugt (von Zombiefilmen/Comics bis hin zu Christoph Schlingensiefs Spektakeln und Frank Schirrmachers Methusalemkomplex). Uns scheint es wichtig, diese unterschiedlichen Artefakte zunächst einmal sichtbar zu machen und durch ihre Exponierung und Versammlung eine Befragung der Präsenz des Untoten im Lebendigen befragbar zu machen.

Karin Harrasser ist wissenschaftliche Leiterin des Kongresses und präsentiert zusammen mit Aino Korvensyrjä das Museum der untoten Arbeit