Oliver Müller: Untotes in der modernen Biomedizin
Lemke pointiert daher: „Es ist sicher nicht voreilig oder überzogen festzustellen, daß der ‚Tod des Menschen’ [er zitiert aus dem Schluss der „Ordnung der Dinge“] eine der weitreichendsten Folgen der Biomacht darstellt. Die Subjektform ‚Mensch’ beginnt sich aufzulösen, da ‚der’ Mensch zum Hindernis auf dem Weg zu einer immer weitergehenden Optimierung des Lebens wird. Die Fragmentierung des Biologischen macht weder vor dem Köperinneren noch vor den Artgrenzen halt.“ (ebd., S. 178) Leitend ist die Hypothese, dass man die ontologischen Provokationen, die durch die moderne Biomedizin generiert werden, als Untotes beschreiben kann und dass dementsprechend die Ideologie des „Mehrwerts des Lebens“ Untotes hervorbringt.
Das hat auch epistemologische Konsequenzen: „Insofern stellt sich dann heraus, daß die natürliche Bedingung unserer genetischen Konstitution auf ein soziales Konstrukt hinausläuft, mit dem Ergebnis, daß es nicht länger viel Sinn macht, zwischen dem ‚Natürlichen’ und dem ‚Sozialen’ zu unterscheiden. Genausogut könnte man nämlich sagen, das die zukünftigen sozialen Verhältnisse der Menschen sich auf natürliche Konstrukte gründen werden. Das ‚Natürliche’ und das ‚Soziale’ lassen sich nicht länger als kategorisch verschieden betrachten. Jedenfalls sind sie als Konzepte nicht länger geeignet zu beschreiben, was sich im Vorfeld der gegenwärtigen Biomedizin abspielt. Wir werden uns bewußt werden müssen, daß wir in einer Welt leben, für deren Beschreibung es erst noch Begriffe zu finden gilt.“ (Hans-Jörg Rheinberger: Repräsentationen der molekularen Biologie. In: Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel (Hg.): Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ostfildern-Ruit 1999, S. 88).
DIE BIOTECHNOLOGISCHE SYNTHETISIERUNG VON LEBEN
Die synthetische Biologie schafft Entitäten, die einen unklaren ontologischen Status haben, es werden „Minimalbetriebssysteme“ von Leben entwickelt, die „artificial cells“ und „living machines“ genannt werden. Der moderne Frankenstein schafft offenbar Nichtganzlebendiges, sondern Halblebendiges/Untotes, etwa das „Mycoplasma laboratorium“ von J. Craig Venter: „Wenn unser Plan aufgeht, wird ein neues Lebewesen in die Welt treten, allerdings eines, das auf den biochemischen Apparat eines vorhandenen Mikroorganismus angewiesen ist, der seine künstliche DNA abliest [...]. Das möchte ich zeigen: Die Software des Lebens verstehen wir erst dann völlig, wenn wir echtes künstliches Leben erzeugen.“ (J. Craig Venter: Entschlüsselt. Mein Genom, mein Leben. Frankfurt am Main 2009, S. 537f). Abgesehen davon, dass es bemerkenswert ist, dass die von Venter geschaffene Lebensform auf ein anderes Leben – parasitär – angewiesenes sind, sich also als doch nicht ganz lebendig, als untot erweist, sollen diese diese untoten Zellen für den Menschen „arbeiten“, vergleichbar mit manchen frühen Zombies. Venters Veröffentlichung in „Science“ (vom 20. Mai 2010) schlägt mediale Wellen (er wird schon länger als „Frankenstein“ oder „Darth Venter“ bezeichnet); das Paper beschreibt, wie Mikroorganismen „synthetisiert“ werden können, indem die DNA biotechnologisch-chemisch hergestellt wird, um dann in einer bestehenden, „entkernten“ Zelle eine neue Lebensform zu bilden. Interessant ist nicht nur, wie sich hier das Lebendige und Tote, das Natürliche und Technische auf einer molekularbiologischen Ebene mischen, sondern wie der öffentliche Diskurs in diesem Kontext geführt wird. Hinter den Hypostasierungen stecken auch Dämonisierungen und die Angst vor willenlosen Kreaturen – und seien es Mikroorganismen, die Ölteppiche „auffressen“ sollen, wie es das beliebteste, das die Synthetische Biologie legitimierende Anwendungsbeispiel in Aussicht stellt. Denn wer weiß, wen oder was die kleinen Kreaturen als Nächstes konsumieren wollen. Im Neuro-Bereich finden sich Lebensformen zwischen natürlich und künstlich etwas anderen Typs: In sogenannten hybriden Systemen werden Rattenneuronen mit Computerchips verbunden, um die komplexe Verschaltung zu nutzen; dies wird bereits in Flugsimulatoren getestet.
DIE REPRODUKTIONSTECHNISCHE KONTROLLE MENSCHLICHEN LEBENS
In der modernen Reproduktionsmedizin wird das vorgeburtliche menschliche Leben technisch immer verfügbarer, diagnostische Verfahren machen eine kommerzialisierbare Auswahl möglicht; immer mehr Embryonen (auch Eizellen, Spermien) werden „kryokonserviert“, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu nutzen (ein Film zu diesem Thema heißt „Frozen Angels“ [link]). In den entsprechenden „Banken“ sind z. T. hunderttausende von diesen noch nicht lebenden Entitäten (in den USA sind insgesamt eine halbe Millionen Embryonen) kryokonserviert. In den reproduktionsmedizinischen Prozessen haben sie den Status des „Überzähligen“ und „Überflüssigen“; schon diese Rhetorik ist ein Indiz für Zombifizierungsvorgänge. Es ist auch rechtlich noch eine Grauzone, was mit ihnen passiert und wem sie „gehören“. Die rechtliche Regelung schwankt zwischen dem Vernichtendürfen und dem Zur-Apoption-Freigeben.
Oft werden die eingefrorenen Eizellen oder Embryonen aus so banalen Gründen wie ein nicht gemeldeter Umzug „vergessen“. Was macht man mit diesen Entitäten? Spermaspende von Toten wird zu einem üblichen Verfahren, die Legalisierung von Eizellspende wird diskutiert. Ähnliches gilt für den selbstverständlichen „Verbrauch“ von Embryonen bei üblichen Befruchtungszyklen; auch beim sog. „Single-Embryo-Transfer“ entstehen „überzählige“ Embryonen auf der Grundlage einer „Qualitätssicherung“ des Lebendigen. Das heißt aber: das qualitativ Minderwertige wird aber auch kein Leben. In den Hochglanz-Broschüren für Eltern wird dieses (ökonomisierbare) Zwischenreich des Untoten ausgespart. „Das werdende Leben ist zum Produkt geworden. Es kann bestellt, geprüft, abbestellt und weggeworfen werden.“ (Giovanni Maio, in der Süddeutschen Zeitung, vom 24. Juni 2010, S. 16).
DIE STEIGERUNG DES LEBENS
In der Enhancement-Debatte wird die bio- und neurotechnologische Optimierung des Menschen zur Zeit unter dem Thema/Stichwort transhuman/posthuman diskutiert. Was heißt das für die menschliche Lebensform? Was heißt das für die „Subjektkonstitution“ und die „Wahrheit“ der Optimierungsprozesse? Die Präsenz des Untoten in der übersteigernden (was eigentlich?) Selbstformung. Der vom Rathenau Institut herausgegebene Bericht „Making Perfect Life. Bio-engineering (in) the 21st Century versammelt einige der wichtigen Technologien der Optimierung des Lebens von der regenerativen Medizin über die Synthetische Biologie zu neurotechnologischen „Verbesserungen“.
Ray Kurzweil, u.a. Transhumanist, nimmt „dank größerer Effizienz“ täglich nur noch 200 Nahrungsergänzungsmittel (Tobias Hülswitt/Roman Brinzanik: Werden wir ewig leben? Berlin 2010, S. 20) [link], um seinem persönlichen und wissenschaftlichen Ziel nahezukommen: dem „Ende des Todes“. Die Überwindung des Todes mit biotechnologischen Mitteln ist bei ihm ein Gegenprogramm zu anderen kulturellen und religiösen Umgangsweisen. Interessant ist dabei die Programmatik der Negierung des Todes und die Vision eines un-toten Lebens durch „Reprogrammierung unserer Biochemie“ und die Aussicht, dass die sich dann in unserem Körper befindliche Nanotechnologie und die Nanoroboter uns befähigen werden, „ewig zu leben“ (ebd., S. 18). In Kurzweils Biologismus scheint es zweitrangig, als was wir ewig leben. Auch wenn er Liebe als Kriterium des guten Lebens anführt, ist ihm die Garantie der Fortexistenz des biotischen Substrats mit allen Mitteln die Basis seiner Arbeit.
Der Biogerontologe Aubrey de Grey [link] spricht von „todesresistenten Zellen“, die ursächlich für Alterungsprozesse sind und die es zu bekämpfen gelte (Aubrey de Grey/Michael Rae: Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung. Bielefeld 2010, S. 201ff.) In einem Kapitel, das tatsächlich mit „Die Zombies zur Ruhe betten“ überschrieben ist, beschreibt er diese Zellen als „Immun-Zombies“. In nicht nur mechanistischer Metaphorik (Köper als komplexe Maschine), sondern auch in martialischer Rhetorik („Truppenzustandsbericht“, „Alte Soldaten sterben nie“, „Kenne deinen Feind“) schlägt er vor diese Zombie-Zellen, die das umliegende Gewebe offenbar durch fehlgeleitete, chemische Signale schädigen, durch Stammzelltherapie zu eliminieren.
Diese Form der Auto-Zombifizierung, die Zombifizierung körpereigener Prozesse erscheint hier als Legitimationsinstrument: In der Zombie-Rhetorik findet eine Horribilisierung biologischer Vorgänge statt, um den Einsatz von Biotechnologien zu rechtfertigen, denn schließlich ist ja die Eliminierung eines Zombies moralisch „gut“.
WANN ENDET HEUTE EIN LEBEN?
„Seinsformen“ an der Grenze zwischen Leben und TodWachkoma/Apallisches Syndrom/Persistent Vegetative State bezeichnen durch Medizintechnik möglich gewordene „Seinsformen“ an der Grenze von Leben und Tod. Diagnostisch-epistemische Herausforderung: Man weiß nicht genau, wie das „Innenleben“ der Patienten aussieht (sie haben vermutlich kein Bewusstsein, haben aber Wach- und Schlafzustände). Der Film von Paul Schwarz „Denn die Seele kennt kein Koma“ erzählt und zeigt, wie die Komapatienten auf Draußensein und Vorlesen offenbar noch reagieren. Wie tief in diesem Kontext in Lebens- und Sterbensprozesse eingegriffen werden kann, zeigt der Artikel „An awakening“ in dem Fachjournal „Nature“ (von 2007), in dem berichtet wird, dass es mittels tiefer Hirnstimulation gelungen ist, einen Wachkomapatienten für kurze Zeit in einen Zustand des Bewusstseins zu holen. Philip K. Dick hat in UBIK (1969) eine Technik beschrieben, die es möglich macht, Verwandte in einem Zustand des „half-life“ zu konservieren, mit reduziertem Bewusstsein, aber mit Kommunikationsmöglichkeit. Dieses half-life reflektiert die steigenden Möglichkeiten der Intensivmedizin, die in die Lage kommt, Sterbeprozesse immer weiter zu verzögern. Die derzeit diskutierte Rolle der Patientenverfügungen am Lebensende und die erweiterten Möglichkeiten des „Sterbenlassens“ werden vor dem Hintergrund der Autonomie der Patienten geführt, doch ist die Debatte der Patientenverfügungen aus der Angst gespeist, nicht sterben zu können, zu dürfen („Dahinvegetieren“). Auf ihre Weise sind diese Verfügungen verwandt mit den postmortalen Regelungen der frühen Neuzeit, um das Lebendigbegrabensein zu vermeiden. Angst macht in beiden Fällen der Zustand zwischen Leben und Tod, das (Noch)Nichtganzgestorbensein.
ORGANENTNAHEM ZWISCHEN LEBEN UND TOD
Das Hirntodkriterium erlaubt eine Deklarierung des Totseins bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen zur Entnahme ungeschädigter Organe. Damit werden Menschen/menschliche Körper/Leichen in einen Zustand zwischen lebendig und tot gebracht, was im Extremfall dazu führen kann, dass eine hirntote Frau ein Kind gebären kann („Erlanger Baby“). Bei Organtransplantation stellt sich das Problem der Pietät: einen Toten bestattet man, doch hier wird (zumindest für drei Tage) ein Zustand zwischen Lebendigsein und Totsein hergestellt, in der man der so entstandenen Entität nicht mit (aller) Pietät begegnen muss (man entnimmt ihr Organe).
LEBEN ÜBER DEN TOD HINAUS
In den verschiedenen Formen des Organ- und Gewebehandels, in Speicherung und Vertrieb biologischer Daten wird der Körper partialisiert und ökonomisiert, dabei ist ein weiterleben in anderen Körpern oder in konservierter Form möglich. Der auf diese Weise „überlebende“ Körper verweigert sich der Kategorie des Totseins, bleibt im Zustand des Partiell-Lebendigseins.
Oliver Müller ist einer der wissenschaftlichen Leiter des Projekts Die Untoten und bietet während des Kongresses die charismatische Beratung 9: 'Menschendesign' an.