1968 – Hirntot

TOD VOR 1968
Die ersten Herztransplantationen geschahen in rechtlich ungesichertem Terrain: Der Körper, dem ein funktionstüchtiges Organ entnommen wird, muss noch einen Rest Leben in sich tragen.

[Henry K. Beecher]

Aber der Mensch, dessen Körper zu diesem Zweck aufgeschnitten wird, darf, nach allen geltenden ethischen Normen, nicht mehr lebendig sein. Ein Dilemma. Entsprechend der herkömmlichen, seit Jahrhunderten angewandten Praxis galt ein Mensch bei Eintreten folgender Kriterien sicher als tot: Atem- und Herzstillstand, keine Reanimation möglich. Als zusätzliche, todsichere Zeichen: Blässe, Totenflecken und einsetzende Leichenstarre. Doch der medizintechnische Fortschritt, der auch die materielle Voraussetzung für die Transplantation lebenswichtiger Organe bildete, hatte eine Situation geschaffen, die den alten Definitionsrahmen sprengte. Die vitalen Grundfunktionen eines an eine Herz-Lunge-Maschine angeschlossenen Körpers konnten über den Zeitpunkt hinaus verlängert werden, zu dem der Tod eingetreten war, bzw. eingetreten wäre.

AD HOC COMMITTEE
An der Harvard-Universität in Boston bildete sich zur Untersuchung dieses neuen Sachverhalts und seiner Konsequenzen für die medizinische Praxis eine medizinische Kommission, das Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death. Diese empfahl in ihrem 1968 veröffentlichten Bericht „Eine Definition des irreversiblen Komas“ [link], den Gehirninfarkt als zusätzliches Todeskriterium zu etablieren. Eines der Hauptargumente lautete, die rechtliche Lage bei Organtransplantationen müsse geklärt werden. Die Kritik in der unmittelbar nach Veröffentlichung einsetzenden Diskussion richtete sich vor allem gegen den pragmatischen Kern der Empfehlungen der Kommission. Sie blieben, so der vorherrschende Einwand, wissenschaftliche Belege für ihre zugrunde gelegten Behauptungen schuldig. Eine gewisse Skepsis scheint zudem auch gegenüber der Person des Kommissionsleiters, Henry K. Beecher, angebracht, der in den Nachkriegsjahren an CIA-Operationen beteiligt war, bei denen es darum ging, des Experimentalwissens von Ärzten des NS-Regimes habhaft zu werden [link]. Hatte man es hier mit einer Kommission zu tun, die die gesellschaftliche Operationalisierung der Medizin vor die ethischen Grundrechte der Einzelnen stellte? 

EINWÄNDE GEGEN DIE NEUERFINDUNG DES TODES
In der medizinischen Praxis setzt sich die neue Auffassung schnell durch. Weltweit werden allein zwischen 1968 und 1978 nachweislich mindestens 30 unterschiedliche Hirntod-Kriterien veröffentlicht. Priorität bei der Abfassung all dieser Kriterien hat nicht mehr – und darin liegt ein wesentlicher Bruch mit der bis ins 19. Jahrhundert vorherrschenden kulturellen Haltung im Umgang mit dem Tod – die Angst der Sterbenden, vorzeitig für tot erklärt zu werden, sondern das Interesse der Lebenden, „einen sterbenden Menschen so früh wie möglich für tot zu erklären“, so der Philosoph und Theologe Robert Spaemann. Sein Kollege Hans Jonas stellt bereits 1968, im Rahmen einer Konferenz über „Ethische Aspekte von Humanversuchen“ [link], grundsätzlich in Frage, ob ein Kriterium wie dieses ausreichen dürfe, um unwiderruflich über das (potentielle) Ende eines menschlichen Subjekts zu entscheiden. „Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod ist nicht mit Sicherheit bekannt, und eine Definition kann Wissen nicht ersetzen. Der Verdacht ist nicht grundlos, dass der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist (wie er bis vor kurzem auch medizinisch allgemein angesehen wurde).“ Intuition und Urteilskraft gerade derer, deren Liebste da auf dem Krankenbett liegen, deren Herz schlägt, die atmen, deren Wunden heilen, ja, die sogar ein Kind bekommen, und die trotzdem für klinisch tot erklärt werden, ist auf das Äußerste herausgefordert. Bis heute sind die Stimmen deren nicht verstummt, die anzweifeln, dass bei Menschen, die nach den Richtlinien des Hirntodkriteriums für tot erklärt wurden, der Sterbeprozess schon abgeschlossen ist. Im Gegenteil. Neueste Forschungsergebnisse zu Gehirnaktivitäten bei Wachkomapatienten scheinen diese Zweifel zu bestätigen.

WIR SIND NUR GEHIRN
Ex negativo bestärkt das Hirntodkriterium eine, seit einigen Jahrzehnten virulente, gehirnreduktionistische Auffassung vom Menschen: Die technische und juridische Hervorbringung eines „lebendigen Leichnams“, also eines Körpers, dessen Organfunktionen alle außer die des Gehirns in Funktion sind, und der deshalb nicht mehr als Sitz einer Person gilt, entspricht der mit dem Aufstieg der Computertechnologien enstandenen Vorstellung, Persönlichkeit, Geist, Intelligenz, mithin: der Sitz der Subjektivität, lasse sich auf das Gehirn reduzieren. Sie steht damit in fundamentalem Gegensatz zu allen ganzheitlichen Konzepten des Menschen als untrennbare Einheit aus Geist, Körper (und Seele). Die pragmatistischen Begründungen für die Möglichkeit der Organtransplantation unterscheiden sich in ihrem Gehirnreduktionismus nicht wesentlich von posthumanistischen Visionen, die glauben, die Zukunft der Menschheit läge darin, ihre im Gehirn gespeicherten Bewusstseinsinhalte digital zu speichern und auf andere „Trägermedien“ als den organischen Körper zu übertragen.

BANK FÜR LEBENSFRISCHE ORGANE
Zweifellos können Organtransplantationen Leben retten. Doch dürfen sie dies auf Kosten anderer Leben? Das Hirntodkriterium bestätigt juristisch und moralisch die konzeptuellen Folgen, die sich in letzter Konsequenz aus dem fundamentalen Eingriff ergeben: Der Körper wird zum Aufbewahrungsmedium für Organe, die nicht mehr die seinen sind, sondern der Gesellschaft gehören. Eine Art Sozialisierung der Körperteile. Noch einmal Hans Jonas: „Sind wir erst einmal versichert, dass wir es mit einem Leichnam zu tun haben, dann sprechen keine logischen Gründe dagegen und starke pragmatische dafür, die künstliche Durchblutung (Lebenssimulierung) fortzusetzen und den Leib des Verschiedenen zur Verfügung zu halten – als eine Bank für lebensfrische Organe. ... Wir haben die Vorteile des lebenden Spenders ohne die Nachteile, die dessen Rechte und Interessen auferlegen (denn ein Leichnam hat keine).“

Die norwegische Autorin Ninni Holmqvist zeichnet in ihrem Roman „Die Entbehrlichen“ das dystopische Bild einer Gesellschaft, in der diese funktionalistische Logik von den Sterbenden auf alle Menschen ausgeweitet wird, deren Leben nach dem (demokratischen) Mehrheitsbeschluss der Gesellschaft „entbehrlich“ wird, weil sie keine Kinder in die Welt gesetzt haben und keiner für die Gesellschaft existentiellen Tätigkeit nachgehen. Mit dem Erreichen des fünfzigsten (für Frauen) bzw. sechzigsten Lebensjahrs (für Männer) werden sie in eine Art Edellager deportiert und leben dort für den Rest ihrer Tage als menschliche Versuchskaninchen und Ersatzteillager – als "Verwalter [ihrer] gesunden Organe", wie es an einer Stelle im Roman heißt – bis zur „Endspende“, wenn ihnen, in der Regel gleich mehrere, lebenswichtige Organe entnommen werden. [link]

FREIE KÖRPERUNTERNEHMER
Diese Befürchtungen des Schlimmsten scheinen sich bislang zum Glück nicht zu erfüllen. Nirgends auf der Welt, so kann man guten Glaubens hoffen, werden Menschen systematisch zu Moribunden (also: Todgeweihten) gemacht, um Anderen als Organersatzreservoir zu dienen. Aber immer wieder wird von Fällen berichtet, in denen Menschen, meist aus den ärmeren und ärmsten Regionen der Erde, freiwillig oder sogar unfreiwillig, Organe entnommen werden. [link] Oder von den Leichnamen Hingerichteter, deren Organe verkauft werden. Vom Harmlosesten angefangen, der Blut- oder Samenspende, über Leihmütter bis zu Menschen, die eine ihrer Nieren zum Verkauf anbieten; es gibt sie bereits, die „freien Körperunternehmer“, die ihr Biokapital verwerten. Und es steht anzunehmen, dass es immer mehr werden.

Darüberhinaus bleibt der mit der Transplantationspraxis verbundene philosophische Skandal, solange man nicht wissen kann, um welche Art von Existenz es sich bei den Menschen im Zwischenzustand der „Lebenssimulation“ handelt. Er verweist auf die brennenden existenziellen Fragen, mit denen wir uns heute auseinanderzusetzen haben: Was bedeutet es, 'in Teilen' statt im Ganzen zu sterben? Und noch allgemeiner: Was bedeutet Sterben heute, und wie kann es in einer menschenwürdigen Weise geschehen?

Hannah Hurtzig, Alexander Klose