Oliver Tolmein: Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung

Die Auseinandersetzung um Patientenverfügung und Sterbehilfe wird unter dem Stichwort ‚Zugewinn an Autonomie und Selbstbestimmung’ geführt.
Doch der erwähnte Vorschlag [des Deutschen Juristentags 2006, der sich mit dem Thema Sterbehilfe befasste; d.Red.] hat schon gar nicht mehr den Anspruch, Selbstbestimmungsrechte zu wahren, sondern besagt schon programmatisch: Es gibt auch objektive Kriterien, die dazu führen sollen, dass eine Behandlung nicht mehr weitergeführt werden kann, soll und auch muss oder möglicherweise darf.

Es gibt drei Leitentscheidungen der Strafsenate des BGH. Wir bewegen uns ja hier im Strafrecht, also dem Rechtsgebiet, das den Lebensschutz garantieren soll von Menschen, allen Menschen in diesem Land.

DER KEMPTENER FALL
1994 ist vom Bundesgerichtshof der Kemptener Fall entschieden worden. Hier ging es um das Leben einer Frau, von der behauptet wurde, dass sie sich im Wachkoma befände. … Tatsächlich hat niemand jemals festgestellt – und einiges spricht dagegen – ob die Frau im Wachkoma lag. Sie hatte einen Herzstillstand und war wiederbelebt worden – übrigens vier Monate nachdem sie ins Altersheim übersiedeln musste. Sie litt an einer beginnenden Alzheimer Demenz. Nach der relativ spät erfolgten Wiederbelebung hatte sie schwere Hirnschäden. Aber auch die sind nie genau diagnostiziert worden. Eine Frührehabilitation oder ähnliches ist bei dieser Frau, die immerhin gerade mal 72 Jahre alt war, überhaupt nie in Erwägung gezogen worden. Die Frau ist also medizinisch richtig schlecht behandelt worden. Man hätte das Krankenhaus wegen Behandlungsmängel arztrechtlich verklagen können, statt zu erwägen, bei ihr die künstliche Ernährung abzubrechen. Man hätte möglicherweise auch den Betreuer zur Verantwortung ziehen können. …

Warum wurde die Frau künstlich ernährt? Im Urteil des Bundesgerichtshofs heißt es, weil sie nicht mehr schlucken konnte. Bemerkenswerterweise bekam sie Medikamente aber durchaus oral. Sie konnte also schlucken. Sie wurde nicht mehr mit dem Löffel ernährt, weil der Pflegeaufwand zu hoch war, um das ganz nüchtern zu sagen. … Der ‚normale’ Gang bei ihr wäre gewesen: Herzstillstand, Wiederbelebung, Frührehabilitation, gute Pflege mit weiterer Ernährung über den Löffel. Die Frau hätte wahrscheinlich noch einige Jahre leben können und es wäre niemand auf die Idee gekommen, ihre Fütterung abzubrechen, weil sie das mutmaßlich nicht mehr will. Stattdessen wird die technologische Lösung gesucht, die Sondennahrung. Sondennahrung ist eine ärztliche Behandlung und die kann man abbrechen. 1994 wehrte sich das Heim dagegen und es wurde auch zugestanden, dass das Abbrechen künstlicher Ernährung in diesem Fall keine Lösung ist. Die Frau wurde also weiterhin künstlich ernährt. Die Angeklagten hatten sich wegen des Versuches einer Tötung durch Unterlassen zu verantworten – das würde heute so gar nicht mehr angeklagt werden. Das Landgericht Kempten hatte gesagt: Das war eine versuchte Tötung durch Unterlassen.

… Daraufhin ging der Fall zum Bundesgerichtshof, der schon einige Jahre zuvor nach geeigneten Fällen  suchte, um die Rechtsprechung zu ändern. Das war ein geeigneter Fall. Er hat die Rechtsprechung geändert. Die Richter stellten fest, dass die Frau nicht im Sterben lag, es also eigentlich kein wirklicher Fall für Sterbehilfe war. Aber sie schufen eine neue Kategorie, neben der Sterbehilfe als Hilfe im Sterben, die Sterbehilfe als Hilfe zum Sterben. Irgendwann wird der Tod eintreten. Das schafft einen auslegbaren Raum für Rechtsfortbildung. Bei der Frau in Kempten stand der Tod nicht unmittelbar bevor. Es wurde Hilfe zum Sterben als erlaubt angenommen – und zwar hier liegt die zweite Innovation der Entscheidung – wenn es eine mutmaßliche Einwilligung der Patientin in ihren Tod gibt. Das Landgericht Kempten bestätigte später diesen mutmaßlichen Willen. Die Frau hätte anlässlich von Fernsehsendungen gesagt, so wolle sie nicht sterben. Der Film ging zwar nicht um Menschen mit Hirnschädigung im Altersheim, sondern um eine Krebspatientin auf einer Intensivstation. Das Landgericht fand all das vergleichbar: Sehr viel Medizin, sehr viel künstliche Ernährung, Apparate. In Folge dieses Kemptener Falles haben viele Betreuungsgerichte in Deutschland Anträge auf Abbruch der künstlichen Ernährung bewilligt. Die Rechtsprechung prägt also die Wirklichkeit in diesem Bereich.

ZWEI WEITERE ETAPPEN
Der zweite Fall kam zwei Jahre später und ist eigentlich noch bemerkenswerter. Beim so genannten Dolatin Fall ging es um eine alte, einsame Frau, die ziemlich wohlhabend und mit einem Arztehepaar befreundet war. Das Ehepaar hatte erhebliche Geldprobleme. Als es der Frau irgendwann sehr schlecht ging, bot das Arztehepaar an, sie doch bei sich aufzunehmen, sich um sie zu kümmern, sie zu versorgen. Als sie dann einen Darmverschluss hatte, überlegte das Ehepaar: Wenn sie jetzt stirbt, könnten wir auch noch das Testament ein wenig verändern. Mit einem befreundeten Notar ist das zu machen. Wenn sie möglicherweise noch Jahre überlebt, sind Haus und Praxis gefährdet. Also entschieden sie, nicht die gebotene Einweisung in die Notarztpraxis und ins Krankenhaus zu machen, sondern lieber mit Hilfe des Notars das Testament zu fälschen, sich zum Alleinerben einzusetzen.

Der Zustand der Frau wurde in der Nacht immer schlechter. Die Ärztin, eine Anästhesistin legte einen Tropf mit Schmerzmitteln an. Die Frau starb. Das Ehepaar ging mit dem gefälschten Testament zum Testamentsvollstrecker und riss sich das Vermögen der Frau unter den Nagel. Nur weil ein Adoptivsohn der Verstorbenen misstrauisch geworden war, kam die Geschichte vor die Justiz. Es gab eine ziemlich hohe Verurteilung, wegen Urkundenfälschung, Betrug und Tötung. Der Anwalt des Ehepaares ging vor dem BGH in Revision. Der BGH nahm die Revision bezüglich des Tötungsdeliktes an und trennte die anderen Verfahrensanteile ab.
Das Tötungsdelikt war für den BGH ein guter Anlass, sich an diesem exemplarischen Fall Gedanken darüber zu machen, wie es zu bewerten ist, wenn ein Arzt Schmerzmittel einsetzt und voraussieht, dass die Patientin sterben wird und er diesen Todeseintritt möglicherweise beschleunigt. Die juristischen Zeitungen haben den kurz angedeuteten Kontext überhaupt nicht veröffentlicht. Auch das Urteil des Landgerichtes Kiel ist nie publiziert worden. Man kann das nur lesen, wenn man sich das Urteil in Gänze besorgt. Dort wurde festgestellt: Es ist nicht strafbar, Schmerzmittel so hoch zu dosieren, dass die Schmerzen bekämpft werden – auch wenn man damit die Tötung in Kauf nimmt.

Der dritte Fall ereignete sich vor drei Jahren. Ein Schweizer Exit-Mitglied, ein Pastor im Ruhestand, begab sich nach Deutschland, um dort eine Internistin mit einem, aus der Schweiz mitgebrachten Päckchen Natrium Pentobarbital Sterbehilfe zu leisten. Der Pastor gab ihr das Präparat und sie durfte sich damit umbringen. Sie hatte eine Krebserkrankung und wollte nicht mehr leben. Dieser Sterbehelfer wurde verurteilt. Das Urteil u.a. wegen Tötung fiel gering aus. Es wurde vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Übrig blieb ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, weil Natrium Pentobarbital in die Betäubungsmittelverordnung fällt, also verschreibungspflichtig ist und nicht eingeführt werden darf. Es wurde eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen. Das heißt: Es wurde gesagt, das war böse und wenn du das noch mal machst, könnte es passieren, dass wir dich vielleicht wirklich bestrafen. Damit war der Bereich des begleiteten Suizids mit Hilfe von Betäubungsmitteln relativ straffrei gestellt.

VERSCHWIEGENE PERSPEKTIVEN UND UNGENANNTE PROBLEME
… Im Gutachten zum Deutschen Juristentag ist in erster Linie von einer Freiheit im so genannten status negativus die Rede. Es geht nicht um das, was Menschen verlangen können oder haben wollen, sondern was sie abwehren können. Das entspricht dem klassischen Denken im Strafrecht, das so aufgebaut und strukturiert ist: Man hat hier den schwachen Angeklagten, der Rechte braucht, um sich gegen den starken, strafenden Staat zur Wehr zu setzen. Im Bereich der ganzen Sterbehilfediskussion ist diese Konstellation ganz selten gegeben. Deswegen ist dort ein Blick, der in erster Linie sich auch auf die Täter und deren Handeln orientiert und versucht hier Liberalisierungen zu erreichen, von der ganzen Struktur der Problemlage her eigentlich ganz unangebracht.

Hier zeigt sich einmal mehr, dass das Strafrecht die falsche Regelungsmaterie ist. Aber die Akzentsetzung im juristischen Bereich folgt dieser Logik und strahlt in die Gesellschaft aus. Denn diskutiert wird über die neuen Gesetze und Entwürfe, nicht diskutiert wird über die tatsächlichen Defizite, die es in diesem Bereich der Sterbebegleitung tatsächlich gibt. Die Probleme liegen hier weniger bei den Strafeingriffen, den individuellen Freiheitsrechten der Betroffenen, sondern bei den Leistungsrechten und der Infrastruktur, die dort bereit gehalten wird. Der Fokus auf dem strafrechtlichen Bereich begünstigt auch, dass viel auf abstrakte Rechtsfragen reduziert wird und die tatsächlichen Verhältnisse, die diesen gerade geschilderten Fällen zugrund liegen, werden überhaupt nicht thematisiert: Dass die Frau in Kempten schlucken konnte und nicht künstlich hätte ernährt werden müssen; dass die andere Patientin tatsächlich ausgenutzt wurde und im Wesentlichen Opfer eines Testamentsbetruges war, all das spielt keine Rolle.

Der Text ist ein Ausschnitt aus einem Vortrag, den der Medizinrechtler und Journalist 2006 auf einer Tagung mit dem Thema '(Un)geregelter Tod' in Düsseldorf gehalten hat. Eine Mitschrift des gesamten Vortrags kann hier abgerufen werden.

Oliver Tolmein wird am Freitag 13.5. auf dem Kongress einen Vortrag über die juristischen Aspekte der Sterbehilfe in Deutschland halten. Am Donnerstag 12.5. leitet er einen Workshop zu Sterbehilfe und pflegerischer Sterbebegleitung.