Hans Werner Ingensiep: Was ist Leben? [Vegetative State]

... 'Persistant Vegetative State' für das sogenannte 'Wachkoma' – aus der modernen Wissenschaftssprache – sowie der alltagssprachliche Ausdruck – seit Ende der 1960er Jahre – human vegetable genannt. ... Was für ein Lebensbegriff wird hier zugrunde gelegt? Welche Bedeutungen werden dem Lebensbegriff auferlegt?

 

WOZU DIE FRAGE? WELCHE FRAGE?
Der vielfältige und geradezu inflationäre Gebrauch des Ausdrucks 'Leben' in aktuellen Problemfeldern – von der Sozialethik bis zur Gentechnologie – steht in einem merkwürdigen Verhältnis zu seiner Klarheit und Bedeutung: je intensiver der Gebrauch, desto größer die Unschärfe. ...
Häufig werden Bedeutungen aus Kontexten herausgerissen und von einem Bereich auf den anderen übertragen, ertrinken geradezu zwischen unterschiedlichen Metaphern, so dass Philosophen – insbesondere analytisch denkende – zu Recht meinen, der Begriff des Lebens sei eben 'unklar'. Aber im Allgemeinen können wir damit gut leben. Nur innerhalb der Bioethik haben wir es jedoch mit einer besonderen Problemsituation zu tun, wenn z.B. die Begriffe 'Leben' und 'Person' unterschieden werden sollen. Aber auch 'Personen' leben. Nicht zuletzt deshalb muss der biologische Lebensbegriff für die Bioethik anschlussfähig sein. Die bislang mehr theoretisch gestellte Frage 'Was ist Leben?' ist bioethisch höchst brisant…
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Instruktiv für Unterscheidungen und Überschneidungen im Lebensbegriff ist der Ausdruck 'vegetatives Leben', der einerseits für Pflanzen, andererseits für die pflanzenhafte Existenz normaler Menschen in der frühembryonalen Entwicklung Verwendung findet. 'Persistent vegetative state' bezeichnet dagegen medizinisch einen anormalen, pathologischen Lebenszustand, der im Fall des so genannten appallischen Syndroms bei körperlich und geistig schwerstbehinderten Menschen mit dem Verlust eines inneren Bewusstseins- und Empfindungsleben verbunden wird, wenngleich äußerlich ein durchaus intensives Bewegungsleben zu beobachten ist.

Manche Eltern resignieren angesichts dessen wie ein Vater, der von seinem bettlägerigen Sohn sagt: 'Er lebt wie eine Pflanze, aber dann müssen Sie schon an schlecht blühendes Unkraut denken' (zitiert nach Anstötz in Cavalieri/Singer 1994, S. 252). Selbst der Vergleich mit tierischem Leben scheint hier zu versagen, und man steigt in der hierarchischen Stufenfolge des Lebens vom Menschen über das Tier auf die Lebensstufe der Pflanze hinab, um diese Seinsweise erfassen zu können. Die Wissenschaftssprache steht hier nicht zurück, wenn im Angelsächsischen in diesem Fall von 'human vegetables' die Rede ist. Was für ein Lebensbegriff wird hier zugrunde gelegt? Welche Bedeutungen werden dem Lebensbegriff auferlegt? Welche Kontexte ermöglichen hier eine begriffliche Klärung?
Offenbar wird zwar ein biologischer deskriptiver und neutraler Lebensbegriff – Pflanzenleben – zugrunde gelegt, der aber dann in der Übertragung den bitteren Beigeschmack eines negativen Wertungsbegriffes erhält.

LEBEN ZWISCHEN 'VEGETATIV' UND 'VEGETIEREN'
Sowohl die positiven als auch die negativen Bedeutungen der vegetativen Terminologie haben ideengeschichtliche Wurzeln in der Antike, in der Naturphilosophie und in der Ethik bzw. in der Religion.
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Der Renaissancephilosoph Carolus Bovillus (ca. 1475–1553) illustrierte in einer bekannten Darstellung in seinem Liber de sapiente (Paris 1510) den engen Zusammenhang zwischen der Stufenordnung in der Natur und der moralischen Stufenordnung der Tugenden bzw. Untugenden des Menschen. Sie verdeutlicht den tradierten Zusammenhang zwischen der niederen naturphilosophischen Stellung der Pflanzen und der ethischen Beurteilung menschlicher Zustände des Vegetierens: Wer als Mensch bloß lebt (vivit), der steht nach Bovillus auf der gleichen Seinsstufe wie eine Vegetabilie, ein Baum (Arbor). In der moralischen Tugendleiter verharrt dieser Mensch auf der unteren Wertstufe der Schlemmerei (gula), wo er sich ganz dem Essen und Trinken hingibt und so seine höhere Bestimmung verfehlt. Man muss diese Parallelität in der Stufenordnung des Seins und der Werte vor Augen haben, um manche gegenwärtige Denkmuster nachvollziehen zu können.

Die Vorstellung von einem 'Vegetativen Leben des Nervensystems' war bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts einerseits mit einer hierarchisch gestuften Seinsordnung im Organischen – Pflanze, Tier, Mensch – verbunden, andererseits mit Ansichten über ein 'vegetatives Leben' im Allgemeinen. … Mit der Verfeinerung der Mikroskopie im ersten Jahrhundertdrittel wurde auch 'Die Selbständigkeit des sympathetischen Nervensystems durch anatomische Untersuchungen nachgewiesen' (Bidder,Volkmann 1842).

Erst später reifte mit Hallet Dale (1875–1968) die Erkenntnis von der Rolle des vegetativen Nervensystems als unbewusstem Gegenspieler des peripheren und zentralen Nervensystems zwecks homöostatischer Regulation im Organismus. Diverse Fehlregulationen werden seit dem Einführen des medizinischen Terminus durch den Arzt Berthold Wichmann (geb. 1905) im Jahre 1934 nicht selten als 'vegetative Dystonie' diagnostiziert, oder es wird von einer 'vegetativen Neurose' gesprochen. (Michael) Kutzer schrieb über die weitere Entwicklung: 'Allerdings leben die weiteren Bedeutungsaspekte, d.h. der allein auf die Pflanzen und deren Leben bezogene wie auch der die Grundlebensvorgänge der Ernährung und Erhaltung betreffende, der nun genauer auf Stoffwechsel, Blutkreislauf, Atmung und Fortpflanzung eingeschränkt wird, in Begriffen wie 'vegetative Funktionen', … 'vegetative Organe', 'vegetative Physiologie' in Wissenschafts- und Alltagssprache fort' (Kutzer: 'Vegetativ', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 2001,S. 562). Ergänzend seien der Terminus 'Persistant Vegetative State' [Jenett, Plum 1972] für das sog. 'Wachkoma' – aus der modernen Wissenschaftssprache – sowie der alltagssprachliche Ausdruck – seit Ende der 1960er Jahre – human vegetable genannt.

Zitate aus:
Erster Abschnitt ('Wozu diese Frage? Welche Frage?): Hans Werner Ingensiep: 'Was ist Leben? – Grundfragen der Biophilosophie', in: Jahrbuch Ökologie 2002, S. 92-103. Der gesamte Text kann hier [link] (PDF, 12 Seiten, 107 KB) heruntergeladen werden.

Zweiter Abschnitt (Leben zwischen 'Vegetativ' und 'Vegetieren'): Hans Werner Ingensiep: 'Leben zwischen 'Vegetativ' und 'Vegetieren''. Zur historischen und ethischen Bedeutung der vegetativen Terminologie in der Wissenschafts- und Alltagssprache, in: N.T. M. : Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, 14 (2006), S. 65–76.

Hans Werner Ingensiep wird als Referent am Samstag, 14.05. am Kongress Die Untoten teilnehmen.