Bio-Macht – über die Grenzen des Körpers und des Lebens hinaus [Thomas Lemke]

Die Mechanismen der Homogenisierung und Fragmentierung des Biologischen erlauben heute eine Zerlegung und Rekombination des Körpers, die Foucault nicht vorausgesehen hat.

Das ist der Einsatzpunkt von Thomas Lemkes Analyse. Der Frankfurter Soziologe befragt Michel Foucaults Konzept der Bio-Macht gut 30 Jahre nach dessen Entstehen nach seiner heutigen Aktualität. Foucaults Theorie, so die Crux von Lemkes Auseinandersetzung, bleibe 'an die Idee eines integralen Körpers gebunden', seine Analyse setze die 'Vorstellung eines in sich geschlossenen und abgrenzbaren Körpers voraus.'

Die biotechnologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte aber habe zu einer Auflösung genau dieser Integrität des Körpers geführt, ebenso wie zu einer Verwischung der Grenze zwischen Leben und Tod. Die Aufgabe, der sich Lemke stellt, ist, die Wirkung der Bio-Macht jenseits der Grenzen des Körpers und jenseits der Grenze zwischen Leben und Tod zu analysieren:

Die aktuellen Technologien der Macht intensivieren und verfeinern den Zugriff auf den Körper, indem sie das Körperinnere als neuen Interventionsraum unterhalb der klassischen biopolitischen Pole »Individuum« und »Bevölkerung« erschließen. Körperteile und -substanzen wie Blut, Organe, Gene oder das Gehirn können vom konkreten Individuum (im Wortsinn: das Unteilbare) abgelöst und von ihm isoliert werden. Dieses Material dient einerseits als wichtige Informationsquelle, die Aussagen über   Gesundheit und Krankheit, Charakter und Verhaltensmerkmale erlauben soll, zum anderen bildet es ein wertvolles Rohstofflager für eine medizinische Nutzung oder kommerzielle Verwertung. Die Körperteile werden zum Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung, ökonomischen Profitstrategien und politischer Regulierung.
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Die Fragmentierung und Parzellierung des Körpers führt auch ... zu einem neuen Verhältnis von Leben und Sterben. Der Tod, der bislang die Grenze der Biomacht markierte und zugleich deren andere Seite war, ist heute ein organischer Bestandteil der Biomacht. Das menschliche Material transzendiert den lebendigen Menschen in zweierlei Weise. Es übersteigt zum einen das individuelle Leben. Der Mensch, der heute stirbt, ist nicht wirklich tot. Er oder sie lebt – zumindest potenziell – weiter, oder genauer: Teile dieses Menschen: seine Zellen oder Organe, sein Blut, Knochenmark, etc. können weiter existieren in den Körpern von anderen Menschen, deren »Lebensqualität« sie erhöhen oder deren Tod sie hinausschieben. Der Tod kann also verwertet werden, er kann zur Verbesserung und Verlängerung des Lebens eingesetzt werden.
Aber der Tod wird noch in anderer Weise besiegt. Das Lebens-Material ist nicht denselben biologischen Rhythmen wie der organische Körper unterzogen, er kann in Blutbanken gelagert oder in Stammzelllinien kultiviert werden, die tendenziell unsterblich sind. Dem »homo materia« ... bleibt die Option, als gespeicherte Information in spezialisierten Genbanken fortzuleben wie dies bei ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten bereits erfolgreich praktiziert wird.

LEBENDE TOTE
Lemke untersucht in der Folge verschiedene Formen dieser neuen Grenzüberschreitungen, die aus dem Wirken der neuen 'Technologien der Teilung und Rekombination' erwachsen und die eine Reihe von neuen 'Mischwesen' hervorbringen, die in den 'Zwischenräumen' hausen:

In dem Maße, in dem der Tod zu einem Teil der Ökonomie des Lebens wird und nicht mehr deren Außen bildet, kommt es zur Bildung von »Zwischenräumen«, welche an die Stelle einer eindeutigen Grenzziehung treten und von einer eigenartigen Spezies von Mischwesen bevölkert sind. Es handelt sich dabei weder um Cyborgs (Haraway 1995) noch um Hybriden (Latour 1995); eher ähneln sie den homines sacri, die Giorgio Agamben (2002) beschreibt: Menschen, die zugleich lebendig und tot sind. Die erste Gruppe dieser »lebenden Toten« sind die Produkte der modernen Biomedizin. Die Reanimationstechniken und der Fortschritt in den Biowissenschaften haben den Tod zu einer Frage von wissenschaftlicher Definition und rechtlicher Regulierung gemacht, zum Problem der künstlichen Etablierung einer Grenze, die sich nicht mehr aus der Natur der Sache – dem »natürlichen« Tod – ergibt, sondern aus technischen Möglichkeiten, bioethischen Erwägungen und (gesundheits-) ökonomischen Kalkülen ...
Aber Menschen mit unklarem biologischen wie moralisch-rechtlichen Status leben nicht nur auf den Intensivstationen der Krankenhäuser, sondern auch außerhalb des medizinischen Bereichs. An dieser Stelle ist es notwendig, daran zu erinnern, dass sich Foucaults Konzept des Rassismus nicht nur auf den physischen Tod bezieht. Es umfasst auch jene »lebenden Leichname«, von denen Hannah Arendt (1993) gesprochen hat: die Staatenlosen und Flüchtlinge, die auf ihren Status als Lebewesen reduziert sind und denen elementare Rechte vorenthalten werden. ... Vielleicht gibt es eine nicht nur zufällige Verbindung zwischen jenen »Überflüssigen« und »Überzähligen« in den Ghettos und Armenvierteln der Welt und den »Embryonen«, die in der Stammzelldebatte als überflüssig bzw. überzählig bezeichnet werden und damit der biowissenschaftlichen Verwertung freigegeben werden sollen. Was sie teilen ist die Diagnose eines »Zuviel«, und es ist eben diese Tatsache, die ihr »Zuwenig«, ihre Reduktion auf reine Körperlichkeit ermöglicht. ... Konsequenterweise bleibt denjenigen, die selbst noch von den Mechanismen traditioneller Ungleichheitsproduktion ausgeschlossen sind, oft  nichts anderes übrig, als sich selbst, d.h. ihren Körper im materiellen Sinn zu verkaufen: Reduziert auf ihre Körperlichkeit kommen sie in der Regeln nicht einmal als ausbeutbare Arbeitskräfte in Betracht (es sei denn für die Prostitution), sondern allein als biomedizinische Rohstofflager (etwa als Organ- oder Blut»Spender«) oder als Informationsquelle für biowissenschaftliche Untersuchungen.

TOD DES MENSCHEN ALS POLITISCHE UND ETHISCHE AUFGABE
Lemkes Analyse kulminiert in einer Auseinandersetzung mit der Diskussion um die Theoreme des sogenannten Posthumanismus. Im Anschluss an Foucaults ebenso berühmtes wie umstrittenes Diktum vom 'Ende des Menschen' plädiert er für eine Position, die weder euphorisch den Träumen technischer Vervollkommnung anhängt noch im Namen des humanistischen Menschenbildes alle diese Veränderungen dämonisiert, sondern die ethische und gesellschaftliche Verantwortung annimmt, die mit den Veränderungen einhergeht und die diese mitgestaltet:

Foucaults »Ethik« macht deutlich, dass es nicht ausreicht, die wahre Komplexität der Dinge zu erkennen, aus der dann notwendig folgt, was wir zu tun oder zu unterlassen haben. Die Natur schreibt nicht die Grenzen unseres Handelns vor, sie sagt uns nicht, wer leben und wer sterben soll, vor allem aber sagt sie uns nicht, wer »wir« sind ... Es ist sicher nicht voreilig oder überzogen festzustellen, daß der »Tod des Menschen« (Foucault) eine der weitreichendsten Folgen biopolitischer Interventionen darstellt. Die Subjektform »Mensch« beginnt sicht aufzulösen, da der Mensch zum Hindernis auf dem Weg zu einer immer weitergehenden Optimierung des Lebens wird. Die Fragmentierung des Biologischen macht weder vor dem Körperinneren noch vor den Artgrenzen halt und ermöglicht neue Mischungen zwischen Menschen, Maschinen und Tieren.
Es scheint weder angebracht, diesen Prozess post-humanistisch als Zukunft ohne Krankheit, Behinderung und Tod zu feiern, um von einer technologisch ermöglichten Überwindung der conditio humana zu träumen ..., noch ist es angemessen, ihn nostalgisch im Namen der Menschheit, der Menschenwürde und der Menschenrechte zu verdammen (Habermas 2001; Fukuyama 2002). Wichtig ist vielmehr, diese Transformation nicht als natürlichen oder schicksalhaften Prozess zu begreifen, sondern als eine politische und ethische Aufgabe, ein Prozess, dem »wir« angehören, an dem »wir« teilhaben, der gestaltbar und veränderbar ist – und in dem sich erst verkörpert, was »wir« in Zukunft meint.

Textausschnitte aus: Thomas Lemke, 'Rechtssubjekt oder Biomasse? Reflexionen zum Verhältnis von Rassismus und Exklusion'. In: Ders., Gouvernmentalität und Biopolitik, Wiesbaden 2008 (2007), S. 111-128; 115f., 118f. u. 126.