Martina Keller: 42,90 pro Arm [Gewebehandel]

Die deutsche Firma Tutogen betreibt ein ebenso verschwiegenes wie lukratives Geschäft mit Leichenteilen: In der Ukraine lässt sie Verstorbenen Knochen entnehmen, aus denen Produkte für die Medizin hergestellt werden – weltweit ein Milliardenmarkt.Am 5. August 2004 stirbt in Kiew der Rentner und Ingenieur Anatolij Kortschak. Um zwei Uhr morgens wird sein Leichnam abgeholt und in das rechtsmedizinische Institut in der ukrainischen Hauptstadt gebracht. Seine Tochter Lena Krat erhält noch in der Nacht einen Anruf. Sie solle am Morgen umgehend ins Institut kommen, alles Weitere werde dort besprochen. [...] Der Mitarbeiter lässt nicht locker und drückt ihr ein Formular in die Hand. Wenn sie einer Hautentnahme zustimme, werde sie kleinen Kindern helfen, die nach einer Verbrennung eine Transplantation brauchten. Lena Krat unterschreibt.

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Was die Mutter von zwei kleinen Töchtern erst jetzt durch den SPIEGEL erfuhr: Das ukrainische Unternehmen schafft die Leichenteile außer Landes und schickt sie nach Deutschland an die Firma Tutogen Medical GmbH. Diese wiederum liefert sie offenbar in großem Umfang an den amerikanischen Gewebemarkt. Den Leichen werden nicht nur Hautstreifen abgeschält, sondern auch Sehnen, Knochen und Knorpel entnommen.

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Der Vorfall in der ukrainischen Hauptstadt gehört zum verschwiegenen Alltag einer kaum bekannten, aber höchst lukrativen Branche im Medizingeschäft: Die Firmen fertigen aus Leichen medizinische Ersatzteile. Sie verwerten dabei fast alles, was der menschliche Körper zu bieten hat: Knochen, Knorpel, Sehnen, Muskelhüllen, Haut, Augenhornhäute, Herzbeutel oder Herzklappen – Gewebe nennt man all das im Fachjargon.

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Knochen oder Sehnen, für die sich Tutogen vor allem interessiert, werden aufwendig verarbeitet: So entfettet und reinigt das Unternehmen entnommene Knochen, schneidet, sägt oder fräst sie zurecht, sterilisiert, verpackt und verkauft sie schließlich in über 40 Ländern weltweit. Mit einem Rezept lassen sich die Produkte sogar über Internetapotheken bestellen.

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Nach Angaben der US-Vereinigung Orthopädischer Chirurgen werden jedes Jahr mehr als eine Million Knochenteile verpflanzt. In keinem anderen Land lässt sich mit Leichenteilen so viel Geld verdienen. Würde eine Leiche in ihre Einzelteile zerlegt, verarbeitet und verkauft, käme man auf einen Erlös von bis zu 250 000 Dollar. Für eine einzige Leiche!

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Die Überzeugung, dass der Körper weit mehr als eine Sache ist, prägt auch Beschlüsse der Weltgesundheitsorganisation, des EU-Parlaments und des Europarats. Sie alle verurteilen, dass mit dem menschlichen Körper Handel getrieben wird, um Gewinne zu machen. In Deutschland regelt das Transplantationsgesetz die Entnahme von Gewebe. Als Spender kommt nur in Frage, wer selbst der Entnahme zugestimmt hat. Stellvertretend können nach dem Tod die nächsten Angehörigen einwilligen. Ausdrücklich heißt es zudem in Paragraf 17: 'Es ist verboten, mit Organen oder Geweben, die einer Heilbehandlung eines anderen zu dienen bestimmt sind, Handel zu treiben.'

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Wer gegen das Handelsverbot verstößt, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht. Tutogen vergütete ihren ukrainischen Partnern jedes Leichenteil mit einem festen Preis. So zahlte die Firma im Januar 2002 für einen kompletten Oberschenkelknochen 42,90 Euro, für einen Oberarmknochen ebenfalls 42,90 Euro und für einen Herzbeutel je nach Größe von 13,30 bis 16,40 Euro.

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Einer der Marktführer in den USA ist RTI Biologics, ein Unternehmen mit Sitz in Florida. 2008 erwirtschaftete RTI einen Umsatz von 147 Millionen Dollar. Die Firma ist nach eigenen Angaben 'führender Anbieter steriler biologischer Lösungen für Patienten in aller Welt'. Dazu hat RTI im vorigen Jahr die Tutogen Medical Inc. gekauft, die amerikanische Mutter der deutschen Tutogen Medical GmbH. Für die RTI-Aktionäre war die Übernahme eine gute Nachricht, denn, so Firmenchef Brian Hutchison, mit Tutogen habe man ein großes internationales Spendernetz erworben. Im Klartext: eine Firma, die Mittel und Wege kennt, an möglichst viele Leichenteile zu kommen.

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Die Lieferungen aus der Ukraine organisiert Tutogen über einen Mittelsmann: Dr. Igor Aleschtschenko, von Haus aus Rechtsmediziner. Er pflegt vor Ort den Kontakt zu den verschiedenen rechtsmedizinischen Instituten und arbeitet seit etwa zehn Jahren für Tutogen in der Ukraine. ... In der Ukraine ist Aleschtschenko viel mehr als nur der Kontaktmann von Tutogen. Er ist Direktor der Firma Bioimplant, die die Gewebeentnahme organisiert und praktischerweise dem Gesundheitsministerium gehört. Eine gute Konstruktion gegen allzu intensive staatliche Kontrollen, wenn die Knochenlieferungen über die Grenze gehen.

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Der Fall des in Kiew verstorbenen Vaters von Lena Krat etwa wurde im Zuge eines Ermittlungsverfahrens mit dem Aktenzeichen 50-3793 untersucht, das am 4. Januar 2005 eröffnet wurde. Es ging dabei um Vorfälle von Mai bis September 2004. Im Einzelnen sind in den Akten die Namen von zehn Verstorbenen aufgeführt. Deren Angehörige gaben zu Protokoll, dass sie 'die Zustimmung für die Entnahme von anatomischem Material nicht gegeben haben'. ... Dennoch stellte die Kiewer Staatsanwaltschaft das Verfahren im Juli 2005 ein, 'weil kein Straftatbestand vorliegt'. Die bemerkenswerte Begründung in der Akte: Die Bioimplant-Mitarbeiter hätten nicht gegen das Transplantationsgesetz verstoßen, weil sie nicht transplantiert, sondern nur Material von Toten entnommen hätten, das dann wiederum zu 'Bioimplantaten' verarbeitet wurde. So konnte die Leichenverwertung weitergehen – bis heute.

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Kiew, die Rechtsmedizin in der Orangeriestraße … Wladimir Jurtschenko leitet das Institut. Er zeigt den Raum, in dem die Leichen für Tutogen bearbeitet werden. Er liegt im Erdgeschoss und ist versiegelt. Warum? 'Weil die US-Gesundheitsbehörde das so vorschreibt', sagt Jurtschenko. ... 'Wir dienen den reichen Ländern nur als Rohstoffquelle', sagt Jurtschenko.

Der gesamte Artikel von Markus Grill und Martina Keller: '42,90 pro Arm', erschienen in: Der Spiegel, Nr. 35 vom 24.8.2009, kann hier heruntergeladen werden.
Martina Keller wird als Gesprächspartnerin am Donnerstag, 12.5. am Kongress Die Untoten teilnehmen.