Entstehen der Bio-Macht [Michel Foucault]

"Worum geht es in dieser neuen Technologie der Macht, in dieser Biopolitik, in dieser Bio-Macht, die sich durchzusetzen beginnt? Ich habe es vorhin in zwei Worten gesagt:"
Es sind etwas mehr als zwei Worte, die der französische Philosoph Michel Foucault in seiner am 17. März 1976 gehaltenen Vorlesung auf die Entstehung der 'Bio-Macht' verwendete, einer Verschränkung von politischen, wissenschaftlichen, (medizin)technischen, hygienischen Wissensformen und Regierungspraktiken, die nach seiner Analyse spezifisch für die modernen Gesellschaften ist.

Die Transkripte seiner unter dem Titel In Verteidigung der Gesellschaft (im französischen Original: Il faut défendre la société) posthum erschienenen Vorlesungen, die er 1975 bis 76 am Collège de France hielt, erklären das Zusammenspiel von 'Disziplinarmacht' und 'Bio-Macht'. Sie gehören zu den kanonischen Texten für heutige Theorien über die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Auswirkungen der life sciences.

Foucault skizziert zunächst den historischen Übergang von den disziplinarischen Machttechniken der Frühmoderne, die auf den individuellen Körper zugreifen, zu den auf die Allgemeinheit der gesamten Bevölkerung zielenden Machttechniken, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstehen:

Nach einem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungs-Menschen richtet. Nach der Anatomie-Politik des menschlichen Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitete, sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, ... das ich als »Biopolitik« der menschlichen Gattung bezeichnen würde.
... Es handelt sich um eine Gesamtheit von Prozessen wie das Verhältnis von Geburts- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usw.
... Es handelt sich um die Beobachtung von mehr oder weniger spontanen und planvollen Verfahren, die in der Bevölerung in bezug auf die Natalität durchgeführt wurden; es geht, wenn Sie so wollen, um die Ermittlung von Phänomenen der Geburtenkontrolle, wie sie im 18. Jahrhundert praktiziert wurde. ... Es geht auch um das Problem der Sterblichkeit, ... [m]ehr oder weniger schwer ausrottbare Krankheiten, die anders als die Epidemien nicht unter dem Blickwinkel zunehmender Todesursachen betrachtet werden, sondern als permanente Faktoren ... des Entzugs von Kräften, der Verminderung von Arbeitszeit, des Energieverlustes und ökonomischer Kosten, und zwar ebensosehr aufgrund des von ihnen produzierten Mangels wie der Pflege, die sie kosten können. Kurz: Krankheit als Bevölkerungsphänomen: nicht mehr als Tod, der sich brutal auf das Leben legt – das ist die Epidemie –, sondern als permanenter Tod, der in das Leben hineinschlüpft, es unentwegt zerfrißt, es mindert und schwächt.
...
Es handelt sich also um Probleme der Reproduktion, der Geburten- und Sterberate. Ein weiteres Interventionsfeld der Bio-Politik sollte ... das sehr wichtige Problem des Alters sein, also des Individuums, das aus dem Feld der Fähigkeiten und Tätigkeiten herausfällt. Auf der anderen Seite gibt es die Unfälle, Gebrechen, die verschiedenen Anomalien.

Aus dem neuen, wissenschaftlichen und politischen Blick auf die Menschen entsteht das moderne Konzept der 'Bevölkerung', in der jeder Einzelne Objekt und Subjekt verschiedener Reihen von statistischen Vorhersagen, medizinischen Untersuchungen, bevölkerungspolitischen Maßnahmen wird:

Die Disziplinen hatten es praktisch mit dem Individuum und seinem Körper zu tun. In der neuen Technologie der Macht hat man es dagegen nicht unbedingt mit der Gesellschaft (oder zumindest mit dem Gesellschaftskörper, wie ihn die Juristen definieren) zu tun und ebensowenig mit dem individuellen Körper. Es ist ein neuer Körper: ein multipler Körper mit zahlreichen Köpfen, der, wenn nicht unendlich, zumindest nicht zwangsläufig zählbar ist. Es geht um das Konzept der »Bevölkerung«. Die Bio-Politik hat es mit der Bevölkerung ... als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun ...
Auf dieser Grundlage wird ... diese Technologie der biopolitischen Macht Mechanismen ins Leben rufen, die zahlreiche Funktionen aufweisen, die sich von denen der Disziplinarmechanismen unterscheiden. In den von der Bio-Politik errichteten Machtmechanismen handelt es sich zunächst natürlich um Vorhersagen, statistische Bewertungen und globale Messungen; es geht aber auch darum, nicht ein bestimmtes einzelnes Phänomen oder Individuum, insofern es Individuum ist, zu verändern, sondern wesentlich auf der Ebene der Gründe dieser allgemeinen Phänomene einzugreifen, auf der Ebene der Phänomene, insoweit sie global sind. Es wird notwendig werden, die Sterberate zu verändern und zu senken, das Leben zu verlängern und die Geburtenrate zu stimulieren. Es geht insbesondere darum, Regulationsmechanismen einzuführen, die in dieser globalen Bevölkerung mit ihrem Zufallsfaktor ein Gleichgewicht herstellen, ein Mittelmaß wahren, eine Art Homöostase etablieren und einen Ausgleich garantieren können; es geht kurz gesagt darum, Sicherheitsmechanismen um dieses Zufallsmoment herum, das einer Bevölkerung von Lebewesen inhärent ist, zu errichten und das Leben zu optimieren, wenn Sie so wollen ...
Diesseits dieser großen absoluten, dramatischen und dunklen Macht der Souveränität, die darin bestand, sterben zu machen, tritt jetzt mit dieser Technologie der Bio-Macht, dieser Technologie der Macht über »die« Bevölkerung als solche, über den Menschen als Lebewesen, eine dauerhafte und gelehrte Macht hervor: die Macht, »leben zu machen«.

Die Art und Weise, wie in der modernen Gesellschaft das für die Gesamtheit der Bevölkerung ermittelte Maß auf den Einzelnen zurückwirkt, wie sich Disziplinar- und Bio-Macht verbinden, ist nach Foucaults Analyse die Norm. Die moderne Gesellschaft ist eine Normalisierungsgesellschaft:

Noch allgemeiner läßt sich sagen, daß das Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft und sich auf dieselbe Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht und zugleich die Kontrolle der disziplinären Ordnung des Körpers und der Zufallsereignisse einer biologischen Vielfalt erlaubt, daß dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, die »Norm« ist. Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden läßt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will. ... Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden.

Textausschnitte aus: Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt/Main 1999; S. 280ff.u. 292f.